mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Tödliche Unsterblichkeit

von Olaf Fritsche

„Sir, Sie wissen, weshalb wir hier sind?“

Die Frage war rhetorisch gemeint. Noch während ich sie aussprach, übermittelte ich dem Mann die Datei mit der Anklage. Mein Partner Bob bereitete unterdessen den Scan der Wohnung vor.

„Ja, aber hören Sie doch. Es war kalt heute Nacht. Ich habe gefroren.“

„Kalt, Sir? Das Temperaturminimum um 3.48 Uhr lag bei 19,72 Grad. Erst unterhalb von 17 Grad ist es gestattet, die Thermoregulierung zu aktivieren.“

„Das mag ja für junge Leute wie Sie angenehm sein. Ein alter Mann wie ich friert aber leichter.“

Bob und ich wechselten einen schnellen Blick. Ein alter Mann – ja, dem Typen war das Alter wirklich anzusehen. Er hatte angegraute Haare und ein paar Falten im Gesicht. Ein klassischer Vorzeitiger. Einer von denen, die schon nicht mehr ganz frisch waren, als sie endlich an die Reihe kamen und der Alterungsprozess bei ihnen gestoppt wurde. Und die aus irgendeinem unerfindlichen Grund keine nachträgliche Verjüngung vornehmen ließen. Längst musste niemand mehr so herumlaufen. Die meisten Menschen bevorzugten ein biologisches Alter um die Mitte zwanzig, selbst wenn sie chronologisch über 200 waren. Doch hin und wieder gab es Leute, die nicht damit zurechtkamen, was die angewandte Altersforschung inzwischen leisten konnte. Damit nicht und allzu oft auch nicht mit den allgemeinen Nachhaltigkeitsvorschriften.

„Sir, durch die rechtswidrige Erhöhung der Raumtemperatur haben Sie Ihr Emissionskontingent für dieses Quartal um 74,9 Einheiten überzogen.“

Ich schickte dem Mann die Statistik in sein cerebrales Kognitionsmodul. Es war eines der Implantate, die obligatorisch waren und gegen die sich daher selbst die störrischsten Vorzeitigen nicht sperren konnten.

„Ich wäre soweit.“

Bob schaute mich fragend an, und mit einem kurzen Nicken gab ich ihm das Zeichen, den Scan zu starten. Es dauerte keine Sekunde, dann war die Bestandsaufnahme komplett. In meinem eigenen Kognitionsmodul erschien das Ergebnis. Alle legalen Besitztümer waren verschleiert wie hinter einer Nebelwand. Verbotene Gegenstände traten hingegen deutlich hervor. Da war eine leere Getränkedose aus dem späten 20. Jahrhundert, die der Mann offensichtlich nicht recyceln lassen wollte; ein Notizblock, dessen Seiten tatsächlich aus Papier bestanden; sowie eine Reihe länglicher Zylinder, welche die archivarische Datenbank als veraltetes Genussmittel mit der Bezeichnung „Zigaretten“ identifizierte. Damit war die Liste aber nicht zuende. Sie umfasste eine ganze Reihe weiterer Dinge, die in der Summe den Alten in bedeutende Schwierigkeiten bringen würden.

Ich ging sie mit der professionellen Abgeklärtheit des erfahrenen Ermittlers durch. Seit über 120 Jahren war ich Cop und hatte so gut wie alles gesehen, was die dunkle Seite der neuen Zeit zu bieten hatte – von erschlichener Steigerung des Emissionskontingents wie in diesem Fall bis hin zu einem wahrhaftigen Transportsystem mit Verbrennungsmotor für fossile Kohlenwasserstoffe, das der Besitzer sogar in Betrieb genommen hatte, um sich der Festnahme zu entziehen. Sowas ließ mich kalt. Doch als sich der nächste verbotene Gegenstand ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit schob, beschleunigte mein Herzschlag unwillkürlich, und mein interner Physiocontroller fragte warnend an, ob es einen externen Grund für die Abweichung von der Norm gab und ob er als Ausgleichsmaßnahme beruhigende Neurotransmitter ausschütten sollte. Ich beendete den Alarm. Bei so etwas nützten Neurotransmitter nicht viel. Hier musste ich auf andere Weise aktiv werden. Und es war besser, wenn ich das alleine erledigte.

„Du kannst schon zurück aufs Revier, Bob. Das hier übernehme ich“, sagte ich und versuchte, meiner Stimme einen möglichst beiläufigen Klang zu verleihen.

Bob sah mich ein wenig verwundert an. Wir beide waren seit Jahrzehnten Partner, und er kannte mich nicht nur gut, sondern manchmal ein bisschen zu gut.

„Soll ich dann schonmal den Bericht …“, setzte er an.

„Nein, sollst du nicht“, unterbrach ich ihn. „Das mache ich, sobald ich nachgekommen bin. Besser, du bereitest inzwischen den Fall Mesmer vor.“

Einen Moment zögerte Bob. Ich wusste, dass er wusste, was ich vorhatte. Oder zumindest hatte er eine recht genaue Vorstellung. Trotzdem zuckte er schließlich mit den Schultern.

„Okay, wenn du meinst.“

Bob beendete die virtuelle Transportation, und sein Hologramm löste sich auf. In der Wohnung befanden sich jetzt nur noch der alte Mann und ich.

„Wir beide müssen jetzt ein sehr ernstes Gespräch miteinander führen“, sagte ich und zog den Mann am Ellbogen entschlossen tiefer in den Raum hinein.


Ich flog mit dem Solarcopter zurück zum Revier. Ich war der einzige Polizist der Stadt – vermutlich der einzige Polizist des Kontinents –, der bei Einsätzen den Ort des Geschehens immer physisch aufsuchte. Die anderen begnügten sich damit, als holografische Projektion aufzutreten. Dank der nahezu überall installierten Emitter und Sensoren war das einfacher und verursachte weniger Emissionen. Und das Einsparen von Emissionen war bei allen Aktivitäten oberstes Gebot, seit die Menschheit vor rund 200 Jahren endlich verstanden hatte, dass sie nur mit wirklich konsequenten und drastischen Maßnahmen eine Chance hatte, die Folgen des Klimawandels hinauszuzögern.

Natürlich wusste ich darüber Bescheid, und ich hielt mich strikt an das mir zustehende Kontingent an Emissionen. Doch wie ich es einsetzte, blieb mir selbst überlassen. Darum stellte ich lieber im Winter den Temperaturregler meiner Wohneinheit ein paar Grad niedriger und steckte das Ersparte in mein Steckenpferd. „Das wirkliche Leben“, wie ich es nannte. Dinge, die es früher einmal gab. Vergessene Prozeduren, abgelegte Rituale, verlorenes Wissen. Vor allem die Art und Weise, wie Polizeiarbeit „in der guten alten Zeit“ funktionierte, faszinierte mich. Auch wenn das kaum jemand verstand. Meine Kollegen nicht. Und am allerwenigsten Bob.

„Du! Ich! Klo! Jetzt!“

Bob stand keine Armlänge vor mir und deutete energisch mit dem Zeigefinger Richtung Toilette. Das WC war der einzige Bereich auf dem Revier, der absolut frei war von jeglichen Detektoren, Sensoren und anderen elektronischen Schnüfflern, weshalb es sich zu einer Art universalem Besprechungszimmer für heikle Konversationen entwickelt hatte. Folgsam trottete ich hinter Bob her, der sich schnell vergewisserte, dass keine der Kabinen besetzt war, und sich dann mit verkniffener Miene mir zuwandte.

„Hast du gedacht, ich würde das nicht merken?“ Er stützte sich mit der Linken auf eines der Waschbecken.

„Was merken?“

„Stell dich nicht blöd, Mann! Du weißt genau, wovon ich rede. Ich habe einen Blick in die Scan-Liste von dem Alten geworfen – bevor du sie gelöscht hast.“

„Ach, das.“ Ich probierte ein mildes Lächeln. Umsonst.

„Ja, das! Das ist Strafvereitelung! Das kann uns den Job kosten!“

„Nicht, wenn du den Mund hältst.“

Bob schlug mit der flachen Hand auf den Rand des Beckens.

„Ja, wenn ich den Mund halte. Und mich mal wieder zu deinem Komplizen mache. Deine kleinen Nebengeschäfte decke. Was hast du dem Alten dafür abgeknöpft?“ Er machte eine kurze Pause, doch bevor ich etwas sagen konnte, gab er selbst die Antwort. „Lass mich raten: Die DVD-Sammlung! Die mit diesen Scheißkrimis von anno dazumal!“

Damit ging er mir einen Schritt zu weit. Bob hatte ja keine Ahnung, wovon er da sprach.

„Columbo!“, wies ich ihn zurecht. „Es war die vollständige Reihe. Alle Folgen. Sowas findest du heute nirgends mehr.“

„Verdammt!“ Ein weiterer Hieb auf das Becken. Vermutlich musste kein Einrichtungsgegenstand im ganzen Block so viel einstecken wie dieses Waschbecken. Und Bob hatte einen beträchtlichen Anteil an diesem Materialtest. „Wen interessiert denn das? Mord und Totschlag – so einen Scheiß gibt es in unserer Zeit nicht. Niemand stirbt mehr. Und es braucht auch keiner mehr einen auf oberkluger Detektiv zu machen. Das ist Kinderkram von vorgestern. Unser Job ist es, verpeilte Vorzeitige und durchgeknallte Anarchisten einzunorden, damit sie sich an die Kontingentierung halten. Mehr Verbrechen ist nicht, und mehr haben Cops wie du und ich nicht zu tun. Und ich weiß ja nicht, wie es mit dir ist, aber ich für meinen Teil will diesen Job noch eine Weile behalten.“

Ich atmete tief durch. Wir hatten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal. Und es lief immer nach dem gleichen Schema ab.

„Aber träumst du nicht auch manchmal davon, einen richtigen Fall zu bearbeiten? Bei dem die Lösung nicht von vornherein in der Datenbank steht?“

„Nein!“ Ein Doppelschlag für das Waschbecken. „Nie!“

Ich holte tief Luft für meinen Part, der üblicherweise an dieser Stelle folgte. Davon, wie es wäre, vor einer Herausforderung zu stehen. Einem Rätsel, bei dem man um mehrere Ecken denken musste. Eine harte Nuss, die umso schwieriger zu knacken wäre, je mehr man sich anstrengte. Ein Fall, wie ihn vor 270 Jahren Inspektor Columbo gelöst hatte.

Bevor ich loslegen konnte, hämmerte es gegen die Toilettentür.

„He, ihr beiden Täubchen!“, rief jemand von draußen. „Wenn ihr ausgeturtelt habt, dann bewegt eure Hintern da raus! Der Chief ruft zur Vollversammlung!“

Ich atmete aus, und Bob ersparte dem Waschbecken den fälligen nächsten Hieb. Wir sahen einander ratlos an. Vollversammlung? Einfach so? Ohne runden Geburtstag, Feiertag oder ähnliches? Soweit wir uns erinnern konnten – und das waren immerhin über 100 Jahre – hatte es das noch nie gegeben. Neugierig verließen wir die Toilette. Wir konnten uns später weiter streiten.


Wir kamen als letzte, und alle Stühle waren besetzt. Bob lehnte sich mit verschränkten Armen und saurer Miene an die Wand, ich stellte mich neben ihn. Dass der Chief ohne ersichtlichen Grund das ganze Revier einberief, war zwar außergewöhnlich, trotzdem erwartete ich nichts Weltbewegendes. Schon gar nicht solch eine Bombe, wie er sie gleich im ersten Satz platzen ließ.

„Leute, ihr seid hier, weil es in der Stadt einen Toten gegeben hat.“

Stille. Niemand im Raum sagte etwas, keiner atmete. Sogar das Kauen auf den Flexistäbchen, mit denen sich nervöse Naturen zu beruhigen versuchten, machte Pause. Es schien, als wäre die Zeit selbst stehengeblieben. Dann meldete mein Physiocontroller einen abrupten Anstieg in meiner Herzfrequenz und meinem Blutdruck. Offenbar ging es einigen meiner Kollegen ebenso, denn im Handumdrehen kehrte das Leben zurück und strengte sich an, die versäumten Sekunden mit einem turbulenten Durcheinander von Wortmeldungen nachzuholen.

„Was meinen sie mit ‚tot‘?“

„Wie äußert sich das?“

„Ist die Beobachtung durch weitere Sensoren gesichert?“

„Wie soll das möglich sein? Das ist nicht möglich! Es stirbt niemand mehr!“

Der Chief ließ den Sturm über sich ergehen und wartete, bis es von selbst wieder ruhig wurde. Erst dann ging er auf die Fragen ein.

„‚Tot‘ bedeutet, dass die Physiosensoren der Person keinerlei Vitalzeichen mehr registrieren. Aber nicht wie bei diesen Anarchoidioten, die ihre Sensoren mit externen Störsendern irritieren oder sich die Dinger gegenseitig rausoperieren. Alles ist noch da, wo es hingehört, bloß gibt es nichts mehr, was sie messen könnten.“ Er nahm einen Schluck Wasser. „Die städtischen Kameras haben für den betreffenden Zeitpunkt das hier aufgezeichnet.“

Ein Hologramm erschien und zeigte in Lebensgröße einen Mann in einem graublauen Overall, der mit einem Allphasenspektrometer ein paar Messungen durchführte. Anscheinend ein Umwelttechniker bei einer routinemäßigen Überprüfung der lokalen atmosphärischen Zusammensetzung. Der Zeitindex startete bei 11:35:39. Als er 11:35:48 erreicht hatte, griff sich der Mann plötzlich an den Kopf, dann an den Körper, dort, wo das Herz saß, anschließend streckte er sich jäh, bis er im Hohlkreuz stand – und sackte in sich zusammen. Um 11:35:55 lag er regungslos am Boden.

Erneut war es so leise, als sei die Stille alleine im Raum. Der Chief räusperte sich.

„Das ist weltweit der erste Todesfall, seit Einführung der Infinite-Life-Technologie. Wie ihr gesehen habt, gibt es keinerlei Hinweise, was den Mann umgebracht hat. Auf den Kameras ist nichts zu sehen, die chemischen Sensoren haben keine ungewöhnlichen Substanzen registriert, es gab keinerlei Abweichungen im elektromagnetischen Spektrum. Nichts.“

Er stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch vor sich.

„Ich weiß, für so etwas sind wir nicht ausgebildet. Es gibt keine Protokolle, wie man vorgehen muss, und keine Beispielfälle in den Datenbanken. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was wir tun sollen – aber trotzdem hängen wir jetzt damit dran und müssen herausfinden, wieso der Mann gestorben ist.“

Er richtete sich wieder auf und ließ seinen Blick über die Gesichter wandern.

„Also, wer will die Ermittlungen übernehmen?“

Niemand rührte sich. Die meisten starrten geschockt auf das Hologramm, einige auf ihre verkrampften Hände. Keiner wagte es, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Oder besser gesagt: fast keiner.

„Untersteh dich!“, zischte Bob so leise, dass nur ich es hören konnte. Vergeblich. Die Anzeige meines Physiocontrollers war überflüssig, ich spürte das Adrenalin auch so durch meine Adern strömen, als ich die Hand hob.

„Wir machen es!“

Neben mir knallte Bob stöhnend seinen Hinterkopf gegen die Wand.


Mir war klar, dass ich Bob mit meiner einsamen Entscheidung ein wenig überrumpelt hatte. Vielleicht hätten wir die Sache besser miteinander besprechen sollen, bevor ich uns freiwillig gemeldet habe. Aber dafür war keine Zeit gewesen. Hätte ich ein wenig länger gezögert, wäre uns eventuell ein anderes Team zuvorgekommen. Kollegen, die sich nicht so gut wie ich auskannten mit der guten alten Art der Polizeiarbeit. Ich wusste schlichtweg alles über Ermittlungen, ganz besonders bei Mordfällen. Ich hatte nicht nur alle Folgen von Columbo zu Hause stehen und würde sie mir noch heute Nacht im Schnelldurchlauf von vorne bis hinten ansehen. Nein, ich hatte auch jedes Buch von Agatha Christie und Edgar Wallace gelesen und kannte die Fälle von Kommissar Wallander, Private Eye Marlow und CSI:NY praktisch auswendig. Kurz gesagt: Ich war der einzige Cop in der Stadt, der über eine klassische Ausbildung verfügte. Und Bob? Der würde es schon lernen – und es würde ihm Spaß machen.

Der Blick, den er mir zuwarf, als ich aus meinem Spind den Trenchcoat hervorholte, ließ allerdings an Spaßigkeit zu wünschen übrig. Dabei war mein Mantel das gleiche Modell, das Columbo in den Filmen trug. Es hatte mich Monate gekostet, die ich mich durch zwielichtige Trödelläden und schmuddelige Second-Hand-Shops wühlen musste, bis ich ihn endlich entdeckt hatte.

Bob sagte nichts, als wir das Revier verließen und uns in einen Solarcopter setzten. Die verschiedenen Sensoren im Umkreis der Leiche hatten nichts Ungewöhnliches aufgezeichnet, also mussten wir uns selbst zum Ort des Geschehens begeben. Als reale Personen, da wir nicht wussten, worauf wir achten und wonach wir suchen sollten. Bob schwieg weiter, als wir ankamen und von drei Männern empfangen wurden, die sich als Arbeitskollegen des Toten auswiesen. Ich speicherte ihre Daten in meinem Memorymodul ab und zeichnete die folgenden Befragungen auf. Columbo hatte sich zwar früher alles einfach so gemerkt oder allenfalls Notizen in einem Block gemacht, aber erstens hatte mein natürliches Gedächtnis wie das der meisten anderen Menschen mit der Einführung der Speicherimplantate erheblich nachgelassen, und zweitens war Papier mittlerweile ein unpraktisches und vor allem seltenes Produkt. Auch als Detective der klassischen Schule durfte man darum durchaus mit der Zeit gehen, meinte ich.

Über den Todesfall wussten die Umwelttechniker dummerweise weniger als wir. Der Tote hatte William Fasko geheißen, weder Familie noch Feinde gehabt und war im Kollegenkreis überaus beliebt gewesen. Scheidungsstreitigkeiten und Rache schieden damit als Motive für einen potenziellen Mord aus. Weil in der eigentlichen Realität niemand mehr starb und man wegen der Überbevölkerung keine Kinder haben durfte, kam auch Zank um das Erbe nicht infrage. Mein Enthusiasmus sank mit jedem gestrichenen Vergleich aus meinem reichhaltigen Lehrmaterial. Dass ein kerngesunder Mann in den besten Jahren – und dank der regulatorischen Module von Infinite Life war heutzutage jeder immer in den besten Jahren – einfach so von einem Moment auf den anderen tot umfiel, hatte es bei keinem meiner Vorbilder gegeben.

„So gesund war Bill aber vielleicht gar nicht“, sagte einer der Techniker beinahe beiläufig.

„Ach, das war doch nichts“, wiegelte sein Kollege ab.

„Was war nichts?“, hakte ich nach. Nicht gesund zu sein, war in Anbetracht eines Physiocontrollers, der pausenlos alle bekannten Vitalparameter und -variablen überwachte und bei Bedarf durch Abgabe von Hormonen und Botenstoffen regulierte, immerhin fast so unmöglich, wie spontan zu sterben.

„In den letzten Tagen hat Bill ab und zu über Kopfweh geklagt. Nicht ständig und immer nur kurz. Ich denke, sein Controller hat gleich gegengesteuert. Aber wohl ein bisschen verzögert, denn erstmal hatte er die Schmerzen.“

Ich markierte mir die Aussage in meinen Aufzeichnungen. Es war nicht viel, aber mehr als diesen kleinen Hinweis hatten wir nicht. Da die Leiche zur Kontrolle der internen Sensoren und Auswertung des Monitoring-Chips zu Infinite Life gebracht worden war, mussten wir unsere Nachforschungen sowieso dort fortsetzen. Bei der Gelegenheit konnten wir uns auch gleich nach der Ursache für diese mysteriösen Kopfschmerzen erkundigen. Vorausgesetzt, Bob entschloss sich bis dahin, wieder mit mir zu reden.


Bei Infinite Life nahm uns eine Frau in Empfang, die sich als Magdalena Peron und Leiterin der Abteilung für Monitoring vorstellte. Sie führte uns über unzählige Gänge in einen Raum, der speziell für die Visualisierung komplexer Daten ausgestattet war. Selbst Bob entfuhr widerstrebend ein „Wow!“, als Magdalena Peron die Scans der Leiche hochlud und kurz darauf William Fasko vor uns stand, wahlweise vollständig oder ohne Haut, ohne Muskeln, nur das Skelett, mit oder ohne Herz und Blutkreislauf, mit hervorgehobenen Nervenimpulsen, jeweils nach Bedarf in Originalgröße oder herangezoomt, in Echtzeit, beschleunigt oder verlangsamt. Was auch immer irgendeine beliebige Zelle im Körper von William Fasko getan oder unterlassen hatte – es lag hier offen vor unseren Augen.

„Wir haben bei diesem Ausfall den Verlauf aller Variablen für den Zeitraum der vergangenen drei Monate genauestens analysiert. Wie Ihnen auffallen wird, gab es zu keinem Zeitpunkt auch nur die leiseste Abweichung von den Normvorgaben.“

„Ausfall? Was meinen Sie mit Ausfall?“ Anscheinend hatte das Wow! Bob seine Stimme wiederfinden lassen.

Frau Peron lächelte nachsichtig.

„Bei der Polizei reden Sie vermutlich von einem Toten oder einer Leiche. Für uns bei Infinite Life steht der lebende Mensch im Vordergrund. Insofern konzentrieren wir uns auf die physiologisch-technischen Aspekte.“

„Wie sähen diese physiologisch-technischen Dinge denn aus, wenn jemand körperliches Unbehagen verspürt?“, nahm ich den Gedanken auf. „Sagen wir mal … Kopfschmerzen oder so.“

Das Lächeln wurde noch gönnerhafter. Als wäre es eine unerhörte Zumutung, sich mit derart ignoranten Dummköpfen wie uns abgeben zu müssen.

„In diesem Fall wäre die Aktivität im somatosensorischen Cortex erhöht, was wir hier, hier und hier als rot markierten Anstieg sehen würden.“ Sie ließ verschiedene Stellen des Hologramms aufleuchten. „Außerdem würde eine Aktivität der Sekretoren für schmerzhemmende Botenstoffe angezeigt.“

„Gab es vielleicht Lücken in der Aufzeichnung? Weiße Flecken in den Daten?“

„Auch darauf haben wir die Daten überprüft. Es fehlt keine Nanosekunde.“

„Bis zum Ausfall“, knurrte Bob.

„Bis zum Ausfall“, bestätigte Peron. „Wir bei Infinite Life stehen ebenso vor einem Rätsel wie die Polizei. Aber seien Sie versichert, dass sowohl die biologischen Systeme als auch die neurocyborgischen Kontroll- und Regeleinheiten korrekt gearbeitet haben. Der Ausfall muss irgendwie durch Eigenverschulden entstanden sein.“

„Selbstmord?“ Ich zog ungläubig die Augenbrauen hoch. Wie um alles in der Welt sollte man ohne Hilfsmittel mitten bei der Arbeit Selbstmord begehen? „Haben Sie eine bessere Erklärung, Detectives?“

Das arrogante Lächeln ging mir auf die Nerven. Bobs Gesichtsausdruck zufolge hatte er auch so seine Probleme mit der Dame.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, laden wir uns die Datensätze herunter, um sie später in Ruhe zu analysieren“, ignorierte ich ihre Frage.

Magdalena Peron hatte nichts dagegen. Anschließend begleitete sie uns zurück in die Empfangshalle und vergewisserte sich, dass wir auch wirklich mit dem Solarcopter davonflogen.


Der Besuch hatte nichts gebracht. Oder fast nichts. Wenigstens redete Bob jetzt wieder mit mir.

„Das war wohl eine Sackgasse“, meinte er auf dem Revier und warf seine Jacke über die Lehne seines Stuhls. Als auch ich meinen Trenchcoat ausziehen wollte, knisterte es. Ich stutzte. Normalerweise war mein Mantel labbrig, ziemlich abgetragen – und vor allem still. Er knisterte nicht.

„Da ist doch …“

Ich fuhr mit der Hand in die Seitentasche. Meine Finger stießen gegen etwas. Vorsichtig zog ich es heraus. Es war ein zusammengeknülltes Stück Papier.

„Das war vor unserem Besuch bei Infinite Life noch nicht darin.“

Ich entfaltete das Blatt und las vor.

„Morgen früh um 5:30. Vor der Stadt am alten Hafen, Pier 12.“

Dieses Mal war es an mir zu lächeln.

„Ich denke, wir sind wieder im Rennen.“


Vom Fluss stieg langsam der Morgennebel empor, als wir am Pier eintrafen. Ich genoss die Szene, sie erinnerte mich an meine alten Krimifilme. Bob machte hingegen ein mürrisches Gesicht. In einer Gegend ganz ohne Überwachungssysteme fühlte er sich nicht wohl. Immer wieder sah er sich hektisch um. An einer Ecke hob er ein rostiges Eisenrohr auf und nahm es mit. Als Waffe. Richtige Waffen hatten Polizisten schon lange nicht mehr, weil die in einer kontrollierten Welt überflüssig waren. Wenigstens dort, wo es zivilisiert zuging.

„Bleiben Sie stehen!“

Die Stimme war elektronisch verzerrt, aber sie kam eindeutig von oben, aus einem offenen Fenster im ersten Stock der Lagerhalle, an der wir gerade entlanggingen. Bob blickte missmutig auf das Rohr. Gegen Dinge, die von oben auf uns geworfen wurden, wäre es nicht von Nutzen.

„Sie wollten uns treffen?“ Ich bemühte mich, meine Anspannung unter Kontrolle zu halten. So etwas gehörte eben zur Arbeit von echten Polizisten, sagte ich mir. „Mit wem haben wir das Vergnügen?“

„Es ist besser, wenn Sie nicht wissen, wer ich bin“, stellte die Stimme fest. „Besser für Sie und besser für mich.“

Bob grummelte etwas Unverständliches und umklammerte das Rohr. Lieber mit der Waffe in der Hand sterben, als sich gar nicht zu wehren, mochte er denken.

„Gut, dann reden wir eben so“, lenkte ich ein. „Was wollen Sie von uns? Wozu haben Sie uns herbestellt?“

Es gab eine kleine Pause, bevor die Stimme antwortete.

„Es geht um den Ausfall. Man hat Sie bei Infinite Life belogen und Ihnen manipulierte Daten gezeigt. In Wahrheit gab es sehr wohl Abweichungen von der Norm. Bedeutende Abweichungen.“

„Was denn genau?“

„Schwankungen in den Neurotransmittern. Der Ausfall war deswegen sogar vor seinem Tod bei uns in der Zentrale und hat seinen Physiocontroller checken lassen. Ohne Ergebnis. Angeblich arbeitete alles normal. Nur hatte der Mann immer wieder Kopfschmerzen.“

„Kopfschmerzen sagen Sie?“ Ich warf Bob einen triumphierenden Blick zu. Er nickte.

„Keine starken Schmerzen. Aber Schmerzen, die es eigentlich nicht geben dürfte.“ Wieder gab es eine kurze Pause, als müsste unser Gesprächspartner nachdenken, ob er die nächste Information tatsächlich herausrücken sollte. „Dieser Ausfall war auch nicht der einzige, in dessen Daten es in letzter Zeit solche Anomalien gegeben hat. Immer mehr Leute haben sich gemeldet. Und bei einem Scan der Datenbank haben wir noch weitere unerklärliche Schwankungen gefunden.“

Ich schnalzte mit der Zunge. Das wurde ja immer interessanter.

„Können Sie das beweisen?“

„Beweise zu finden, ist Ihre Sache. Ich gehe schon genügend Risiko ein, weil ich Ihnen das alles erzähle.“

„Geben Sie uns wenigstens einen Anhaltspunkt, wo wir mit der Suche nach Beweisen anfangen sollen.“

Ich spürte, wie meine Aufregung neue Höhen erklomm. Mehrmals musste ich die Meldungen meines Physiocontrollers unterdrücken. Dieses Gespräch würde die Wende im Fall bringen. Ich wusste es.

Aus dem Fenster kam keine Antwort.

„Hallo? Sind Sie noch da?“

Schweigen.

„Ich glaube, der ist weg“, sagte Bob. Er ließ das Rohr in seiner Hand sinken.

„Der kann doch jetzt nicht einfach abhauen.“ Energisch schritt ich los, auf das Tor der Halle zu.

„Willst du da etwa reingehen?“ Bobs Bedarf an nicht einzuschätzenden Situationen war für den Rest des Tages erschöpft. In dem unübersichtlichen Lager nach einem Unbekannten zu suchen, war das Letzte, worauf er Lust verspürte.

„Du kannst ja hier warten, wenn du Schiss hast“, antwortete ich nur, als ich durch das Tor verschwand.

„Scheiße! Warum habe ich keinen Partner, der noch alle Latten am Zaun hat?“, fluchte Bob lauthals und folgte mir.

Eine halbe Stunde später hatten wir die Halle zweimal durchkämmt, aber niemanden gefunden.

„Weg!“ Ich legte so viel Frust wie möglich in das eine Wort.

„Können wir dann endlich aufs Revier?“, fragte Bob. „Ich habe die Schnauze gestrichen voll von diesen Spielchen.“

Er warf das Metallrohr achtlos von sich. Das metallische Geräusch des Aufpralls auf dem Betonboden hallte in der leeren Halle wider. Bob fasste sich an die Stirn.

„Allmählich brummt mir der Schädel von diesem Fall“, schimpfte er. „Dir nicht auch?“

Doch ich hörte gar nicht hin. Ich war in meine eigenen Gedanken versunken. Stimmte, was der Unbekannte uns erzählt hatte? Wie sollten wir das nachprüfen, geschweige denn beweisen? Ganz so glatt, wie ich es mir vorgestellt hatte, liefen die Ermittlungen doch nicht ab. Aber immerhin hatten wir nun einen Hinweis. Und nachher würden wir der Dame von Infinite Life einen weiteren Besuch abstatten. Aber dieses Mal ohne vorherige Anmeldung.


Kaum waren wir zurück auf dem Revier, donnerte uns die Stimme des Chiefs entgegen.

„In mein Büro! Sofort!“

Bob und ich wechselten einen überraschten Blick. Was hatte das zu bedeuten? Unsere Kollegen grinsten nur, sagten aber kein Wort. Statt die Mäntel auszuziehen, trotten wir zum Chef.

„Tür zu!“, befahl der, doch bevor wir der Aufforderung nachkommen konnten, legte er los. „Ich will auf der Stelle wissen, was ihr für eine Nummer abgezogen habt bei Infinite Life?“

Verwundert sahen wir ihn mit großen Augen an.

„Nummer? Was für eine Nummer?“

„Verarsch mich nicht, Mann!“ Der Chief knallte mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass ein Holoemitter umkippte und von der Platte rollte. „Das will ich von euch wissen. Was habt ihr dort für krumme Dinger gedreht?“

„Wir … wir verstehen nicht ganz, Boss.“ Bob, der durchaus ebenfalls immer gut für einen cholerischen Anfall war, klang ungewohnt kleinlaut.

„Na, dann haben sich die Leute von Infinite Life sicherlich geirrt, als sie euch bei einer illegalen Durchsuchung der Labors erwischt haben, was?“

„Der … was?“

„Da waren wir nie, Sir!“

„Ach, da wart ihr nie?“ Jetzt donnerte der Chief beide Hände zugleich auf die Tischplatte und erhob sich aus seinem Stuhl. „Dummerweise sagen die Aufzeichnungen etwas anderes. Ich habe die Daten gesehen. Ihr habt euch nicht nur unbefugt in den gesicherten Bereichen herumgetrieben, ihr habt euch dabei auch noch so dämlich wie totale Vollidioten angestellt. Infinite Life hat Strafanzeige wegen Industriespionage gestellt.“

Die Worte verschlugen mir den Atem. Meine Physiosensoren spielten verrückt, was kein Wunder war, da mir tatsächlich gerade schwarz wurde vor Augen. Die Regulatoren schütteten eine Dosis Aufputschmittel in meinen Blutstrom.

„Bis auf weiteres seid ihr suspendiert!“, schnappte der Chief. „Da ist die Tür!“

„Aber Boss …“, versuchte Bob es.

„Raus!“, schnitt ihm der Chief das Wort ab.

Bedrückt und verwirrt verließen wir das Büro.

„Das ist dann wohl schon das Ende der Fahnenstange, was?“, kommentierte Carl, den es immer freute, wenn jemand zusammengeschissen wurde. Ohne Vorwarnung drehte Bob sich um und schlug ihm mit voller Wucht seine Rechte aufs Kinn. Unter den erstaunten Blicken aller Kollegen kippte Carl nach hinten und blieb bewusstlos liegen.

„Los, raus hier!“, zischte Bob mir zu und zog mich am Ärmel. „Scheiße! Ich glaube, ich habe mir die Hand gebrochen.“


Ich machte mich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Bob musste mit seiner Hand zur Medistation und wollte außerdem wegen der Kopfschmerzen seinen Physiocontroller überprüfen lassen, wenn er schonmal da war. Ich war physisch völlig in Ordnung, aber meine Gedanken überschlugen sich geradezu. Deshalb brauchte ich ein wenig Zeit, um sie zu ordnen.

In meinen alten Filmen war das die Stelle, wo der Held auf dem Tiefpunkt angelangt war, weil alles schieflief, dachte ich. Dummerweise fühlte ich mich verdammt nochmal nicht wie ein Held. Obendrein blieb mir keine Zeit, mich selbst zu bemitleiden oder mit dem Schicksal zu hadern. Denn das Schicksal nutzte die Gunst der Stunde und versetzte mir gleich den nächsten Schlag. Noch bevor ich zu Hause angelangt war, rief mich der Chief an und beorderte mich zurück aufs Revier. Und ich sollte mich gefälligst beeilen.


Als ich dort ankam, war es dunkel und fing an zu regnen, aber der Himmel sah nicht halb so düster aus wie die Miene des Chiefs. Er wies auf einen Stuhl, und ich setzte mich mit einer bösen Vorahnung. Wenigstens verzichtete er auf lange Vorreden und kam gleich zum Punkt.

„Also, ich habe keine Erfahrung damit und weiß deshalb nicht, wie man sowas am besten angeht. Darum sage ich es einfach geradeheraus: Bob ist tot!“

Bob ist tot!

Im ersten Moment stieß ich einen hohl klingenden Lacher hervor.

Bob! Ist! Tot!

Konnten Gedanken dröhnen? Die drei Worte hallten jedenfalls hin und her, als würden sie von meinen Schädelknochen reflektiert.

Tot!

Scheiße!

Mein Physiocontroller flippte regelrecht aus, und mein Bewusstsein drohte zum zweiten Mal an diesem Tag, sich zu verabschieden. Vermutlich dauerte es nur ein oder zwei Sekunden, bis eine wahnwitzige Kombination von Aufputschmitteln und Beruhigungshormonen mich wieder stabilisiert hatte. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Bob war tot! Der Mann, mit dem ich in den letzten Jahrzehnten mehr Zeit verbracht hatte als mit meinen Hausschuhen. Der mir den Rücken freigehalten hatte, wenn ich mir im Dienst ein paar Objekte für meine Sammlung gesichert hatte. Mit dem zusammen ich im ersten Todesfall in diesem Jahrhundert ermittelte. Bob war tot!

„Er ist nicht der einzige“, fuhr der Chief fort. „Alleine in den vergangenen acht Stunden sind Meldungen über drei Dutzend andere Todesfälle eingegangen, und mit jeder Minute kommen weitere dazu.“ Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Es ist ein einziger Albtraum.“

„Was sagt Infinite Life dazu?“ Bob war tot! Das war für mich die eigentliche Katastrophe. Trotzdem war ich ein Cop. Und da draußen starben Menschen. Bob musste warten. Er würde das verstehen. „Immerhin sind die es doch, die uns mit ihren Implantaten und Controllern das ewige Leben versprechen.“

„Das ist eine interessante Frage. Und genau das macht mich stutzig.“ Der Chief lehnte sich nach vorne, die Unterarme auf die Schreibtischplatte gestützt. „Die sagen dazu gar nichts. Alles, was die wollen, ist, dass ich Sie aus dem Verkehr ziehe. Und genau diesen Gefallen werde ich denen nicht tun.“

Er stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und gab jemanden draußen ein Zeichen.

„Bei Infinite Life steckt irgendwo der ganz große Wurm drin. Und ich schätze mal, Sie sind ihm hart auf den Fersen. Aber alleine knacken wir die niemals. Dafür fehlt uns das nötige Know-how. Und deshalb …“ In der Tür erschien ein kleines Männlein, das aussah, als würde es seit Erschaffung der Erde über den Planeten wandeln. Behutsam legte der Chief ihm seine große Hand auf den Rücken, schob ihn ins Büro und auf mich zu. „Darf ich vorstellen? Professor Mpenga.“


Eine Stunde später stand ich erneut vor der Zentrale von Infinite Life. Der Chief hatte tatsächlich einen Durchsuchungsbeschluss herbeigezaubert. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas noch gab. Er auch nicht, flüsterte er mir zu, während ein Team von Spezialisten mit einer tragbaren KI die Sicherheitssysteme der Zugangskontrolle knackte.

Dann flutete ein Tsunami von Detectives und Agenten das Gebäude. Es war der größte Polizeieinsatz in der jüngeren Geschichte. Mit Recht. Denn in der gleichen Zeit, in der wir uns in die Büros und Labore stürzten, in Computer und Systeme hackten, Dateien und biologische Proben durchwühlten, starben da draußen Menschen. Menschen, die darauf vertrauten, dank Infinite Life unsterblich zu sein.

Professor Mpenga erwies sich bei unserer Aktion als ideale Geheimwaffe. Anders als sein Aussehen vermuten ließ, trug auch er lebenserhaltende Implantate in seinem Körper, allerdings stammten die nicht von Infinite Life, sondern waren eine Eigenentwicklung. In der Zeit, bevor sich Infinite Life das Monopol an derartigen Geräten sichern konnte, hatte Professor Mpenga die Forschungsabteilung eines konkurrierenden Unternehmens geleitet, erzählte er mir und gab zu, dass Infinite Life damals die Nase vorn hatte und Systeme anbot, die tiefer in die Vitalfunktionen eingriffen und erfolgreicher Zellen verjüngten. Allerdings hatten sie niemals verraten, wie sie das schafften. Das ewige Leben war von jeher alles andere als Open Source.

Nun saß der Professor im Allerheiligsten der Infinite-Life-Zentrale und wühlte sich durch Laborprotokolle, die für mich absolut unverständlich waren, um es milde auszudrücken. Ich sah ihm dabei über die Schulter, als uns hysterisches Kreischen zusammenfahren ließ.

„Sind Sie wahnsinnig? Sofort legen Sie die Unterlagen zurück!“

Mühsam von zwei Polizisten zurückgehalten funkelte Magdalena Peron uns an. Sie war zu dieser frühen Morgenstunde bei weitem nicht so tadellos hergerichtet wie bei meinem ersten Besuch, als Bob noch dabei war. Genaugenommen sah sie vielmehr aus wie eine 230-jährige Frau, die man überraschend in die Haut einer 25-Jährigen gequetscht hatte. Ihr süffisantes Lächeln hatte sie ebenfalls zu Hause gelassen. Dafür trug sie eine hassverzerrte Fratze.

„Ah, guten Morgen, Magdalena.“ Verwundert registrierte ich, dass Professor Mpenga und die Furie einander offenbar kannten. „Immer noch so emotional wie früher. Manches ändert sich nie, was?“

Der Professor wandte sich wieder den Aufzeichnungen zu und ließ sich nicht von den Beschimpfungen irritieren, die Peron ihm entgegenschleuderte. Im Gegenteil, er lächelte hin und wieder. Schließlich hob er ein Pad mit Notizen zu Versuchen in die Luft und wandte sich der fluchenden Abteilungsleiterin zu.

„Ihr habt es gewusst!“, rief er mit einer Mischung aus Wut und Genugtuung. „Diese Daten lassen keinen anderen Schluss zu. Ihr wusstet von Anfang an Bescheid!“

Etwas irritiert schaute ich zwischen ihm und der nun überraschend stillen Magdalena Peron hin und her.

„Wer wusste was, Professor?“

„Infinite Life. Deren Wissenschaftler. Die verantwortlichen Manager. Und unsere entzückend aufgekratzte Freundin hier.“ Er wies mit dem Zeigefinger auf das Pad. „Schon in den ersten Experimenten sind sie damals auf die gleichen Schwierigkeiten gestoßen wie wir. Aber während alle Konkurrenten nach einer Lösung gesucht und am Ende doch keine gefunden haben, ging es Infinite Life nie darum, das Problem wirklich in den Griff zu kriegen. Es reichte ihnen, es zu kaschieren. Es unter einen dicken Teppich zu kehren. Mit großem Aufwand und bewundernswertem Geschick haben sie ihr System so aufgebohrt, dass es alle Symptome für sein unvermeidliches Versagen unterdrückt. Bis es schließlich doch zusammenbricht.“

„Tut mir leid, Professor, ich verstehe noch immer nicht. Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, junger Freund, dass jeder Träger des vermeintlichen ’ewigen Lebens’ von Infinite Life von dem Tag an, als er sich die Geräte implantieren ließ, in Wahrheit dem Tode geweiht war. Das System kann nicht funktionieren. Und es hat nie funktioniert. Sie alle … Wir alle haben nur deshalb so ungewöhnlich lange gelebt, weil wir sozusagen immer heftiger unter Drogen standen. Unsere Organe wurden regelrecht ausgequetscht bis zum letzten Tröpfchen. Und wenn das verbraucht ist …“

Er streckte seine Hand senkrecht nach oben und ließ sie dann zur Seite kippen wie einen Mann, der tot umfällt. Jetzt verstand ich. Und es gefiel mir überhaupt nicht.

„Aber das wäre dann ja …“, stammelte ich.

„Genau“, führte Professor Mpenga meinen Satz weiter. „Das wäre dann schlichtweg Mord. Mord an Milliarden Menschen.“


Jetzt kennen Sie die ganze Geschichte. So, wie es tatsächlich gewesen ist – nicht der Mist, den die Medien berichten über den Cop, der uns alle zum Tode verdammt hat.

Die ersten Kopfschmerzen setzten bei mir noch in der Nacht der großen Razzia bei Infinite Life ein. Glücklicherweise bekam Professor Mpenga mit, was mit mir los war. Er programmierte meinen Physiocontroller so um, dass er allmählich immer weniger in meine Vitalfunktionen eingreift. Das rettet zwar nicht mein Leben, aber es verhindert den plötzlichen Kollaps. Stattdessen sterbe ich langsam. Wie Millionen oder Milliarden andere Menschen auch. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera, heißt es in meinen alten Krimis. Entweder du bleibst bei den Systemen von Infinite Life und kippst irgendwann einfach um, oder du löst dich von der liebgewonnenen Lüge vom ewigen Leben. Nach den neuesten Prognosen sind wir so oder so spätestens in zwanzig bis dreißig Jahren tot. Wir alle. Weltweit.

Ist schon tragisch, dass ausgerechnet das ewige Leben am Ende die Menschheit zum Aussterben verurteilt hat. Es sei denn, einige von uns, die noch lange genug dabei sind, lernen rechtzeitig, wie man Kinder macht und aufzieht. Und wissen sie, womit die das lernen wollen? Ich wette, da kommen Sie nie drauf! – Mit alten Filmen! Mit längst vergessenen Streifen wie Die Waltons und Unsere kleine Farm. Die sind jetzt richtig begehrt. Der Chief meinte, es hätte sich ein regelrechter Schwarzmarkt entwickelt, wo Kopien „unter’m Ladentisch“ verkauft werden. Ja, er hat wirklich „unter’m Ladentisch“ gesagt. Ich schätze, das hat er auch aus einem der Filme. Jedenfalls ist Columbo nun Pflichtstoff auf dem Revier. Dafür habe ich den Jungs meine Sammlung geschenkt. Ich selbst kann damit sowieso nicht mehr lange etwas anfangen.

Das ist in Ordnung so. Ich hatte ein langes und gutes Leben. Weitaus länger, als die Natur es vorgesehen hatte. Aber um ehrlich zu sein: Auf die Dauer kann eine Ewigkeit ganz schön langweilig werden. Wenn immer die gleichen Köpfe denken, kommt dabei nichts Neues mehr heraus. Es wird höchste Zeit, dass mal eine unverbrauchte Generation mit frischen Ideen kräftig durchlüftet. Sie muss ja nicht alles Alte über Bord werfen. Columbo beispielsweise – der ist zeitlos. Scheiße, ich glaube, ich werde den Chief morgen mal fragen, ob er mir die Dinger noch einmal ausleiht. Ich selbst schaffe es nicht mehr aus dem Haus, aber er kann einen Boten schicken. Ein Abspielgerät steht auf dem Tisch im Wohnzimmer, bis dorthin schleppe ich mich. Ja, das werde ich machen. Den Trenchcoat anziehen, in den Sessel setzen und Columbo schauen. Eine Frage hätte ich noch …


Ende der Aufzeichnung.


Aussetzen der Vitalfunktionen: 14:28 Uhr.