mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Hamburger Abend

von Olaf Fritsche

Wir nennen es immer noch Hamburg. Dabei gibt es die Stadt schon lange nicht mehr. Seit Jahrzehnten leben ihre letzten Bewohner in Ruinen, verbunden durch Plattformen und Stegen aus Aluminiumschrott, Holzlatten und Blechen, über die sie Stoffbahnen gespannt haben zum Schutz gegen das Wetter. Gegen die Sonne und den Regen. Vor allem gegen die Sonne. Früher sollen die Sommer in Hamburg ja gerne verregnet gewesen sein, heutzutage dauert die Dürre von März bis Oktober an. Welch eine Ironie: Dürre in einer Stadt, der das Wasser buchstäblich bis zur Dachkante steht. Ist nur dummerweise Salzwasser. Hatte Hamburg einst am Wasser gelegen, befindet es sich nun im Wasser. In der Nordsee, die sich mit Ausnahme der früheren Mittelgebirge den ganzen Norden einverleibt und sich auf breiter Front mit der Ostsee verbunden hat.

Mein Name ist Alice Garmander, Identitätsziffer 48322-93-654, Hauptinspektorin der Emissionsbehörde, und ich halte gerade zum dritten Mal meinen Unterarm mit dem implantierten Berechtigungschip vor die Glasscheibe mit dem völlig veralteten Lesegerät. Bei den ersten beiden Versuchen ist gar nichts passiert, aber das ist nicht ungewöhnlich. Beim dritten Anlauf brummt der Kasten schließlich stotternd zum Zeichen, dass die Verriegelung aufgehoben ist. Trotzdem muss ich kräftig mit der Hüfte gegen die verzogene Tür stoßen, um endlich eintreten zu können. Das stechende Aroma einer Mischung aus Schimmel, Rost und Schweiß schlägt mir entgegen. In der ehemaligen Elbphilharmonie riecht es wie in allen Gebäuderesten, die noch stehen. Warum auch nicht? Dass von dem Kasten mehr aus dem Wasser ragt als von den meisten übrigen Häusern, bedeutet nicht, dass die vielen Geigen, Konzertflügel und Kesselpauken in den unteren Stockwerken auf angenehmere Weise verrotten oder die Wände von einem kultivierteren Pilz überzogen sind. Immerhin ist es einigermaßen kühl und dunkel. Ich nehme die Sonnenbrille ab. Extradunkle Gläser, eines davon gesprungen, aber besser, als von der Sonne blind zu werden.

„Die Kaffeemaschine steht ein Stockwerk höher. Von den Aktivisten zerschlagen. An der Wand haben sie eine Notiz hinterlassen. Angeblich hat das Ding 140 Kilowattstunden vergeudet. Woher der Kaffee stammt, ist nicht bekannt. Vermutlich vom Schwarzmarkt.“

Der junge Polizist ist offensichtlich gut geschult, seiner klaren und auf das Wesentliche reduzierten Meldung zufolge. Bestimmt ist er noch nicht lange dabei.

„Und die Leiche?“

Er sieht mich irritiert an. Eindeutig ein Neuling. Schon die erste Frage, die nicht im Einsatzhandbuch steht, bringt ihn aus dem Konzept. Na ja, er wird es schon noch lernen.

„Ich verstehe nicht ganz.“

„Na, die Leiche. Der Tote. Mir hat man gesagt, es wurde jemand umgebracht.“

Er schluckt. Seine Ohren laufen rot an. Vermutlich fürchtet er, sich für alle Zeiten blamiert zu haben.

„Ja, da liegt auch ein Toter. Aber ich dachte, das wäre nicht so wichtig. Ich … Also, die Energieverschwendung …“

„Ist schon gut.“ Ich hebe beschwichtigend eine Hand. Nicht nur, um ihn zu beruhigen, sondern auch, damit er nicht mitbekommt, dass ich grinsen muss. Das erste Mal seit etlichen Wochen. Das ist das Angenehme an der Arbeit mit Einsteigern: Ihre Naivität ist einfach rührend.

„Normalerweise haben Sie recht, und der Energieverlust hat oberste Priorität. Normalerweise! Aber das hier ist kein normaler Fall.“

Ich hätte ihm gerne erklärt, weshalb dieses Mal alles anders ist. Weshalb die Emissionsbehörde nicht wie sonst üblich die menschlichen Kollateralschäden ignoriert, sondern sie sogar in den Fokus der Ermittlungen stellt. Weshalb plötzlich das Leben eines Einzelnen – oder besser gesagt: dessen Tod – wichtiger sein soll als das Überleben aller. Wie gesagt: Ich hätte es gerne erklärt, wenn ich es denn selbst gewusst hätte. Nur hat mein Chef dazu keine Silbe verloren, als er mich zu diesem Tatort schickte. Und ich war zu lange dabei, um überflüssige Fragen zu stellen. Aber natürlich hatte ich eine Ahnung.

„Also, führen Sie mich hin?“

Am Tatort sieht es genau so aus, wie ich es erwartet habe. Die Kaffeemaschine ist ein altes Modell, das dreimal so viel Energie schluckt, wie nötig wäre, wenn Kaffee zu trinken, überhaupt noch erlaubt wäre. Wegen des enormen Ressourcenverbrauchs ist solch eine Verschwendung aber längst streng untersagt. So steht es nicht nur im Gesetz, so ist auch das gesunde Empfinden der Bevölkerung. Mal abgesehen von ein paar Ewiggestrigen wie dem Alten, der da jetzt tot neben dem Automaten liegt.

Ich checke seine Identitätsziffer. Jahrgang 2024. Also am Ende der Epoche der Vergeudung geboren. Vermutlich waren seine Eltern Leugner, die erst nicht glauben wollten, dass sie den Planeten zugrunde richteten, und später behaupteten, sie hätten davon nichts gewusst. Eben ein typischer Hintergrund für einen Ewiggestrigen. Nur hat sich dieser hier radikalisiert und aller Vernunft zum Trotz an der Kaffeetasse gehangen. Politischer Extremismus und Drogenkonsum – solche Fälle begegneten mir in letzter Zeit immer häufiger.

Ich habe genug gesehen. Alleine die Kaffeemaschine erzählt mir mehr, als mir lieb sein kann. Und die Leiche? Die wird mich sicherlich in den kommenden Tagen mehr auf Trab halten als zu ihren Lebzeiten. Ich winke den Polizeineuling heran.

„He, … Äh, wie heißen Sie?“

„Berger, Hauptinspektorin.“

„Gut. Also, Berger. Sagen Sie dem Räumdienst, sie sollen die Maschine zum Recycling bringen und den Leichnam zur Biokompostierung. Die Implantate sollen sie an die Emissionsbehörde schicken. Ich will, dass die gründlich ausgelesen werden, bevor sie in die Reinigung gehen und wiederverwendet werden.“

Er nickt. Wollte er sogar gerade salutieren? Ein wenig übereifrig, der Kleine. Aber ich schätze, aus dem wird mal ein brauchbarer Kollege. Ich werde mir seinen Namen merken. Doch zunächst muss ich ein paar alte Bekannte besuchen. Die Art und Weise, wie die Kaffeemaschine zerstört wurde, kommt mir verflucht vertraut vor.


Als ich bei dem Hochhaus ankomme, ist die Sonne bereits untergegangen. Wie üblich ist am Himmel keine Wolke zu sehen. Trotzdem zeigen sich nur wenige Sterne. Die meisten sind von Reflektoren verdeckt, mit denen Geoingenieure im vergangenen Jahrhundert versucht hatten, den Klimawandel aufzuhalten, indem sie das Sonnenlicht mit riesigen Spiegeln im Weltall von der Erde weg lenkten. Über Monate hinweg hatten sie Tausende davon in Umlaufbahnen geschossen. Bis eine der Raketen in großer Höhe explodiert war und die Bruchstücke andere Spiegel zersprengt haben, deren Trümmer ihrerseits weitere Reflektoren zerstörten und so fort. Ein Dominoeffekt, der seitdem nach und nach das ganze Projekt in Sternschnuppen verwandelt. Noch immer ziehen Schrottteile, die zur Erde fallen, auf ihrem Weg durch die Atmosphäre glühende Schweife hinter sich her. Ich verfolge, wie eines schräg über mir für eine Sekunde so hell aufleuchtet, dass ich einzelne Wellen der Nordsee zu meinen Füßen ausmachen kann. Wie schön doch eine Katastrophe sein kann. Der Plan war damals also daneben gegangen. Genau wie die Idee, Treibhausgase unterirdisch zu speichern oder die Meere mit Eisen zu düngen, damit das Plankton unseren Dreck schluckt. Meine Güte, die Menschen haben sich im vorigen Jahrhundert sowas von überschätzt. Und wir dürfen es jetzt ausbaden.


„Was willst du, Garmander?“

Die Frau stellt sich quer in den Türrahmen und verschränkt die Arme vor der Brust. An eines ihrer Beine klammert sich ein kleiner Junge und sieht mit weit aufgerissenen Augen zu mir empor.

„Ich war eben in der Elbphilharmonie, Sam.“ Ich lächle dem Kleinen zu. „Und wer bist du?“

„Schöne Musik gehört?“ Sams Miene wird trotz ihres Witzes keine Spur freundlicher. „Er heißt Leon.“

„Klang nach einem Konzert für schwere Hämmer.“ Ich wühle in meinen Taschen. Irgendwo müsste dort noch ein frisch aufgeladener Dauerbonbon sein. Ich finde ihn in der linken Innentasche meiner Jacke und halte ihn dem Jungen entgegen. „Möchtest du?“

„So ein Hammer, wie du ihn früher geschwungen hast?“ Sam löst kurz ihren rechten Arm aus der Verschränkung und stupst mit der freie Hand Leon an. „Nimm ruhig.“

„Genau so einer. Ich vermute mal, ich würde einige dieser Hämmer finden, wenn ich mich bei dir umsehen sollte, oder?“ Der Junge greift sich den Bonbon und steckt ihn sich hastig in den Mund. „Ist Zitrone. Magst du Zitrone?“

„Soll ich dich jetzt reinlassen, oder was?“ Der Arm wandert zurück in seine Abwehrposition. „Zitrone ist gut. Er mag kein Apfel.“

„Dieses Mal nicht. Aber es wäre gut, wenn ihr euch mal eine andere Technik einfallen lasst, damit ich mich nicht irgendwann an meine Vergangenheit erinnern muss.“ Ich gehe in die Hocke, um mit dem Jungen auf Augenhöhe zu sein. „Apfel mag ich auch nicht. Aber Erdbeer. Was hältst du von Erdbeer?“

„Und wieso bist du dann hier?“ Die Spannung im Körper der Frau lässt merklich nach. Sie legt ihrem Sohn eine Hand auf den Kopf. „Er soll nicht so viel naschen. Lieber echte Früchte essen, aber Erdbeeren sind schwer zu bekommen.“

„Ihr habt bei eurer Aktion einen Kollateralschaden verursacht. Ein Ewiggestriger. Dummerweise einer, der wohl organisiert war.“ Meine Knie knacken, als ich mich wieder aufrichte. Diese ewig feuchte Luft in der Stadt ist Gift für meine Gelenke. „In Alt-Altona ist ein schwimmendes Feld. Dort kann man im Sommer Erdbeeren selber pflücken.“

„Diese Spinner sind zu blöd und zu verbohrt, um etwas auf die Reihe zu kriegen. Sollen die sich doch organisieren, bis sie aus den Ohren qualmen.“ Sie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Alt-Altona ist mir zu weit. Und mit dem Gemeinschaftsboot dauert die Fahrt einen vollen Tag.“

„Nehmt das besser nicht auf die leichte Schulter. Es werden mehr, und sie treten immer offener auf. Ich bin gekommen, weil ich glaube, dass sich da etwas zusammenbraut.“ Mein Blick wandert hinunter zu dem Jungen. „Soll ich mal ein paar Erdbeeren mitbringen, wenn ich welche gepflückt habe?“

„Danke für die Warnung.“ Mit beiden Händen schiebt die Frau den Kleinen in die Wohnung und tritt selbst hinein. Mich will sie offensichtlich nicht hereinlassen. Bevor sie die Tür schließt, hält sie einen Moment inne. „Erdbeeren wären schön.“

Dann stehe ich alleine im Treppenhaus.

Früher bin ich auch so gewesen, erinnere ich mich, während ich nach unten steige bis zum letzten Stockwerk oberhalb des Wasserspiegels. Ein offenes Fenster dient als Haustür. Ich klettere hindurch und turne auf den Steg. Bevor ich zur Emissionsbehörde gegangen bin, wollte ich die Luftverschmutzer und Klimakiller, die es immer noch gab und die heimlich weiter ihre Dreckschleudern betrieben, auf eigene Faust ausschalten. Kaputtmachen, was die Erde kaputt macht. Im Grunde hat sich nicht viel geändert. Nur werde ich nun dafür bezahlt. Und ich bringe niemanden um, wenn so ein Ewiggestriger dazwischenkommt. Aber das habe ich auch früher nicht gemacht. Niemals.

Um ein Haar wäre ich in ein Loch auf dem Steg getreten. In solchen Wohngebieten sind die Wege in einem fürchterlichen Zustand, und nachts gibt es keine Beleuchtung. Da passiert es Besuchern und anderen Fremden schnell, dass sie ein unfreiwilliges Bad nehmen. Ich mache einen großen Schritt über die Lücke.

Mein Fuß hat noch nicht wieder den Steg erreicht, da reißt mich etwas um. Ich spüre, wie ich abhebe. In die Luft geschleudert werde. Die Welt dreht sich in einem irrwitzigen Tempo. Kein zusammenhängender Film, nur Bildfetzen. Gleichzeitig ein Knall, so laut, als würde mein Kopf zerquetscht. Dann ein Fiepen. Hoch und grell. Ich will mir mit den Händen die Ohren zuhalten, aber ich weiß nicht, wo meine Hände sind. Ein Schlag gegen den Kopf. Mein Schädel wird nach hinten gerissen. Doch ich spüre keinen Schmerz. Es geht alles zu schnell für Schmerz. Aufprall. Aber wo? Auf dem Wasser? Nein, auf dem Steg. Die Bilder reihen sich aneinander, ergeben wieder einen Sinn. Ich liege auf dem Steg. Irgendwie. Jedenfalls nicht so, wie man liegen sollte. Das Fiepen ist noch da. So laut, dass ich nichts anderes höre. Und ich fühle nichts. Nur das Sehen funktioniert. Doch ich wollte, auch das wäre ausgefallen.

Die Nacht ist nicht mehr dunkel. Sie ist orange. Das Hochhaus ist weg. Dort brennen jetzt die Reste seiner Mauern. Das Feuer trägt Ruß und Staub in die Luft. Unmengen von Kohlendioxid strömen in die Atmosphäre. Mehr als eine Stadt wie Hamburg in einem ganzen Jahr ausstößt. Mein Gott, wissen diese Leute denn nicht, was sie mit dieser Explosion anrichten? Ich versuche, mich aufzurichten oder wenigstens meinen Oberkörper aufzustützen. Aber es geht nicht. Gar nichts geht. Was ist mit meinen Armen? Meinen Beinen? Warum kann ich nicht einmal den Kopf drehen? Stattdessen muss ich auf das Inferno starren. Wir Menschen werden es nie schaffen. Wir sind zu dumm dafür. Lieber schlagen wir uns gegenseitig die Köpfe ein und zerstören unsere eigene Lebensgrundlage. Wie hieß es früher? Den Ast absägen, auf dem man sitzt? Ich muss lachen. Es gibt in Hamburg gar keine Äste mehr. Der Spruch ist ein dummer Scherz geworden.

Beim Lachen bilden sich vor mir kleine rote Bläschen. Okay, alles vor mir ist mehr oder weniger rot, aber mir ist klar, dass das Blut ist. Mein Blut. Sieht anscheinend nicht berauschend aus für meine Lungen. Ich sterbe also vor der Menschheit. Auch gut. Es ist alles gut. Alles egal.

Ich schließe die Augen. Der Rest läuft wohl ohne mich ab, denke ich. Und die Erdbeeren? Wer wird sie jetzt sammeln? Und wer essen? Erdbeeren. Wenigstens mein letzter Gedanke gilt etwas Schönem.