mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Welche Stunde schlägt

von Olaf Fritsche

… fünf, sechs, sieben. Sieben Schläge vom Kirchturm. Sieben Uhr. Zwei Stunden bis zur Entscheidung.

Er wachte wie immer um sieben auf. Aber sonst war heute alles anders. Er hatte einigermaßen geschlafen. Wie ein Baby, würde er sagen, wenn er sich noch erinnern könnte, wie er als Baby geschlafen hatte. Jedenfalls tief und ruhig und, soweit er es wusste, ohne Traum. Das war schon einmal gut, denn seine Träume waren selten angenehm. Da verzichtete er lieber drauf.

Er setzte sich im Bett auf und zog die Vorhänge zurück. Der Himmel war bedeckt, aber immerhin regnete es nicht. Auch das war gut.

Zufrieden stand er auf und ging ins Bad. Als er nach der Zahnbürste griff, stellte er fest, dass seine Hand nicht zitterte wie sonst so oft. Kein bisschen. So sollte ein Tag anfangen, dachte er.

Beim Frühstück überlegte er, ob er einen Brief schreiben sollte. Irgendetwas Erhabenes, Heroisches. Oder kurz und rätselhaft. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Ein Brief wäre etwas für die anderen, das heute aber war sein Tag. Seiner alleine. Da wollte er keine Zeit mit einem Brief vergeuden. Er wollte jeden Moment genießen. In jeder Einzelheit. Alle Details. Heute würde sich die Welt nach ihm richten. Das war heute sein Leben.

Er zog sich die Chucks an und streifte die Jacke über. Vor dem Spiegel fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare. Dann öffnete er die Schublade und nahm die Pistole heraus.

Es würde sein Tag werden.


Zwei Schläge. Halb acht. Anderthalb Stunden bis zur Entscheidung.

„Los, Mäuschen! Raus aus den Federn! Wir müssen bald los.“

Anni drehte sich auf den Bauch und stopfte ihr Gesicht demonstrativ ins Kissen. Sie wollte nicht aufstehen. Dafür war es viel zu früh, fand sie. Ihre Mutter fand das nicht. Sie zog die Bettdecke weg, griff Anni unter den Armen und hob sie sanft aus dem Bett.

„Heute wird nicht getrödelt“, sagte sie. „Wenn wir nicht pünktlich sind, wird die Frau bei der Arbeitsagentur böse, und dann kriegen wir weniger Geld und du keine neuen Schuhe.“

„Ich will keine neuen Schuhe“, maulte Anni. Sie setzte ihre trotzige Miene auf, obwohl sie selbst nicht glaubte, dass die im Moment viel helfen würde.

„Willst du lieber barfuß in den Kindergarten gehen?“, fragte ihre Mutter. „Und ganz schwarze Füße kriegen wie Herr Staps?“

Bei der Erwähnung ihres Stoffteddys griff Anni das Kuscheltier und drückte es fest an sich. Herr Staps war ein Eisbär mit schneeweißem Fell und pechschwarzen Fußsohlen. Außerdem war er Annis bester Freund und wusste immer, was zu tun war.

„Herr Staps sagt, dass schwarze Füße voll in Ordnung sind!“, stellte Anni entschlossen fest.

„Okay, wenn das so ist, schlage ich vor, dass du ohne Schuhe herumlaufen darfst, wenn du ein Eisbär geworden bist wie Herr Staps. Solange du noch ein kleines Mädchen bist, musst du aber die Regeln für kleine Piratinnen einhalten und Schuhe anziehen. Einverstanden?“

Anni dachte einen Augenblick nach. Was ihre Mutter gesagt hatte, klang vernünftig. Vorsichtshalber tauschte sie einen fragenden Blick mit ihrem Plüschtier, aber Herr Staps hatte keine Einwände.

„Abgemacht!“, schlug Anni ein. Während sie ihr Nachthemd auszog, überlegte sie, wie alt Piratinnen wohl sein mussten, damit sie zu Eisbären werden konnten.


… sechs, sieben, acht. Acht Uhr. Eine Stunde bis zur Entscheidung.

Er stand an der Straßenbahnhaltestelle. Die Pistole wog schwer in der Jacke. Heute sah das Viertel gar nicht so heruntergekommen aus wie sonst. Er erinnerte sich gut daran, wie er hierher gezogen war. Als er gerade seinen Ausbildungsplatz verloren hatte. Damals war Conny noch dabei gewesen. Conny, die gesagt hatte, sie würde ihn lieben und sie würden das schon schaffen. Gemeinsam. Conny, die einen knappen Monat später mit diesem Arsch abgehauen war. Dem Arsch, der angeblich kein Loser und Weichei war. Der einen guten Job hatte und so eine beschissene getunte Karre fuhr. Was glaubte Conny wohl, wie viel Kohle für sie abfiel, wenn der Arsch alles in seinen Wagen steckte. Er spürte, wie der Zorn in ihm hochkochte. Diese Wut, die manchmal aufkam, wenn er daran dachte, wie ihn die Welt ständig verarschte. Heute wird er Conny zeigen, was in ihm steckte, wozu er fähig war. Conny, ihrem Arsch von Lover und der alten Schlampe von der Arbeitsagentur. Die ihm vorwarf, er wolle gar nicht arbeiten, sei faul und unwillig. Unwillig! Das hatte sie gesagt. Heute wird er ihr zeigen, was für ein Wille in ihm steckte. Und dann wird sie es bereuen. Sie alle werden es bereuen. Aber dann wird es zu spät sein.

Vom Kirchturm ertönten zwei Schläge. Halb neun. Eine halbe Stunde wartete er schon. Wieder waren zwei Bahnen nacheinander ausgefallen. Diese Ärsche bekamen es nicht einmal auf die Reihe, ihre verdammten Straßenbahnen pünktlich fahren zu lassen, aber er war der Loser? Er rotzte auf die Schienen. Er hatte lange nicht mehr auf den Boden gespuckt. Sowas tat man nicht, hatte seine Mutter ihm beigebracht. Und dann war sie wieder die ganze Nacht weggeblieben, hatte sich mit irgendeinem Horst oder Dieter oder Peter herumgetrieben, und manchmal war niemand dagewesen, wenn er aufwachte. Auch so eine Schlampe, dachte er. Genau wie Conny und die Schlampe von der Agentur. Alles Schlampen! Alles Ärsche! Das Gewicht der Pistole fühlte sich gut an. Da kam endlich die Straßenbahn.


Halb neun. Eine halbe Stunde bis zur Entscheidung.

Mit dem Ausklingen des zweiten Schlags kletterte Anni in den Bus, Herrn Staps fest im Griff. Der Bus war nicht so voll wie an anderen Tagen, wenn sie ganz früh zur Arbeitsagentur mussten. Ihre Mutter hob sie auf einen freien Platz und setzte sich daneben. Gegenüber saß eine ältere Frau. Sie hatte die grauen Haare streng nach hinten gekämmt und mit Haarklammern festgesteckt. Ihre Finger krallten sich krampfhaft an die große Handtasche, dass die Knöchel ihrer ohnehin bleichen Haut weiß hervortraten. Wie die Lippen, die sie aufeinanderpresste, sodass sie kaum zu erkennen waren. Der Frau geht es nicht gut, dachte Anni.

„Das ist Herr Staps!“, sagte sie und streckte der Frau ihr Plüschtier entgegen. Die Frau zuckte zusammen, sah überrascht kurz auf den Teddy und schaute dann entschlossen aus dem Fenster. Anni machte das nichts. Sie wusste, dass Erwachsene manchmal Hemmungen gegenüber Stofftieren hatten. Das kam daher, dass sie vergessen hatten, was jedes Kind ganz genau wusste: dass Stofftiere in Wahrheit lebendig waren.

„Herr Staps ist ein guter Zuhörer“, erklärte sie der Frau geduldig. „Sie können ihm alles sagen, auch Geheimnisse.“

„Lass das, Anni!“ Annis Mutter zog ihren Arm mit dem Stofftier zurück. „Du sollst doch nicht fremde Menschen belästigen.“ Sie schaute entschuldigend zu der Frau. Die Frau drehte den Kopf weiter dem Fenster zu.

„Aber ich belästige sie doch gar nicht!“, protestierte Anni. „Herr Staps hat nur gemerkt, dass es der Frau nicht gut geht, und will ihr helfen.“

Annis Mutter holte Luft, doch bevor sie etwas sagen konnte, mischte sich der Mann vom Platz auf der anderen Seite des Ganges ein.

„Dein Herr Staps ist wohl ein sehr freundlicher Bär?“, fragte er. Seine Haut war dunkler als ihre und Mamas, stellte Anni fest. Und er hatte tiefschwarze Haare.

„Ja, Herr Staps kann alle Probleme lösen, die es gibt“, antwortete Anni, froh, dass es doch noch Erwachsene gab, die Bescheid wussten. „Sogar ganz schwierige, wie wenn die anderen Kinder im Kindergarten mal wieder doof sind oder man aus Versehen ein Glas vom Tisch gestoßen hat und das kaputt gegangen ist.“

Sie blickte ein wenig verschämt zu ihrer Mutter hoch. Das mit dem Glas hatte ihr gestern eine gehörige Portion Schimpfe eingebracht, und Anni hatte ein bisschen geweint, aber nur, bis Herr Staps sie getröstet hatte.

„Entschuldigen Sie, bitte“, setzte Annis Mutter an.

„Ach, ist schon gut“, winkte der Mann ab. „Ich habe auch eine Tochter in dem Alter.“ Er wandte sich Anni zu und beugte sich dabei ein bisschen vor, damit sein Gesicht auf der gleichen Höhe war wie ihres. Das freute Anni, denn die meisten Erwachsenen sahen immer von oben auf sie herab. Sie mochte den Mann.

„Meine Tochter hat auch so ein kluges Stofftier“, erzählte er. „Aber das ist kein Eisbär, sondern ein Hase. Und er heißt Hopps.“

„Kann Hopps auch Leute wieder fröhlich machen?“, wollte Anni wissen.

„Und wie! Einmal war der Fernseher kaputt, und Hopps hat für die ganze Familie Theater gespielt.“

Er lachte laut, und Anni lachte mit. Auch ihre Mutter lächelte, und Anni mochte wetten, dass sogar die alte Frau mit dem verbissenen Gesicht kurz mit den Mundwinkeln gezuckt hatte. Sie hatte es doch gewusst: Herr Staps konnte jeden wieder fröhlich machen. Selbst wenn ihm dieses Mal Hase Hopps von der Tochter des netten Mannes geholfen hatte.


Drei Schläge. Viertel vor neun. Eine Viertelstunde bis zur Entscheidung.

In der Straßenbahn war seine Wut abgeklungen. Er hatte sich wieder im Griff. Es war nicht gut, wenn er sich von seinem Zorn übermannen ließ. Heute nicht. Heute musste er einen klaren Kopf behalten. Zum wiederholten Male fuhr seine Hand außen über die Jackentasche. Durch den Stoff spürte er das harte, kalte Metall. Ich bin eine Waffe, dachte er. Eiskalt. Knallhart. Und tödlich. Vor allem tödlich. Er grinste. Heute hatte er die Macht. Die absolute Macht. Alle, die ihm irgendwann dumm gekommen waren, werden es heute bereuen.

Er hatte alles bis ins kleinste Detail geplant. Zuerst war diese Schlampe von Sachbearbeiterin dran, die ihn behandelte, als wäre er der letzte Dreck, ein stinkender Schnorrer, der um Almosen bettelte. Dieses Mal wird er sie betteln lassen. Und dann, wenn sie tot in ihrem eigenen Blut lag, wird er über die Flure marschieren und so viele Leute wie möglich abknallen. Auf den Gängen, in den Büros. Er wusste genau, welchen Weg er nehmen wollte. Erster Stock. Dann zur Treppe, auf der die Leute schon in Panik ins Freie fliehen wollen. Danach den zweiten Stock. All diejenigen, die sich versteckt haben. Ja, heute war sein Tag. Heute hatte er die Macht. Die Macht über Leben und Tod.


Drei Schläge. Viertel vor neun. Eine Viertelstunde bis zur Entscheidung.

Annis Mutter nahm auf dem einzigen freien Stuhl im Wartebereich Platz und hob Anni auf ihren Schoß. Außer ihnen warteten fünf andere Menschen darauf, aufgerufen zu werden. Zwei Männer mit dunkler Haut, die ein bisschen so aussahen wie der nette Mann aus dem Bus, unterhielten sich leise. Eine Frau mit einem Kopftuch las ein Buch. Ein ziemlich junger Mann, von dem Anni gedacht hätte, dass er eigentlich in die Schule gehen müsste, tippte auf seinem Handy rum. Bestimmt unterhielt er sich so mit seinen Freunden, dachte Anni. Und ein Erwachsener, bei dem Anni nicht einschätzen konnte, wie alt er war, döste auf seinem Stuhl vor sich hin, vielleicht war er sogar eingeschlafen. Er schnarchte nicht, aber manche Männer können ja schlafen, ohne zu schnarchen. Jedenfalls sah keiner der Leute so aus, als bräuchte er gerade dringend die Hilfe von Herrn Staps. Anni kuschelte sich dichter an ihre Mutter. Schade, dass ich nicht müde bin, dachte sie, sonst könnte ich jetzt auch ein bisschen schlafen.

Er stieg aus der Straßenbahn. Von der Haltestelle aus waren es nur ein paar Schritte zum Amt. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, doch er fühlte sich ganz ruhig. Er hatte die Kontrolle. Über sich und über alles andere. Er schob die schwere Haustür auf, durchquerte das Foyer und stieg die Treppen empor.

Anni sah, wie der junge Mann den Gang entlang kam. Er war angezogen wie viele junge Männer und ging auch so wie die anderen. Aber an seinem Blick erkannte sie sofort, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Als hätte er Angst und wäre gleichzeitig wütend. Anni kannte das Gefühl. Es kam, wenn etwas ganz doll doof war und man es unbedingt ändern wollte, aber das ging nicht. Sie hatte sich selbst schon manchmal so gefühlt, zum Beispiel, als ihr Vater im Krankenhaus gelegen hatte, weil er so fürchterlich krank war, dass er am Ende daran gestorben ist. Das war das Schlimmste, was Anni in ihrem ganzen Leben erlebt hatte. Ob auch der Vater von dem jungen Mann tot war? Dann konnte ihm niemand helfen, weil niemand die Toten wieder lebendig machen konnte. Dann konnte man ihn nur trösten, und das konnte niemand besser als Herr Staps.

Anni griff fest ihren Eisbären, hopste vom Schoß ihrer Mutter und ging auf den jungen Mann zu.


… sieben, acht, neun. Neun Schläge von der Kirchturmuhr. Neun Uhr. Die Stunde der Entscheidung: Der Mensch ist böse!

Er sah das kleine Mädchen mit dem weißen Plüschteddy auf sich zukommen.

Was will die denn?, dachte er. Für so einen Scheiß habe ich keine Zeit.

„Hallo, das ist Herr Staps“, sagte sie und streckte ihm ihr Stofftier entgegen.

Er sah, wie hinten im Wartebereich ein paar Leute zu dem Mädchen und ihm herübersahen. Was sollte das werden? War die Kleine durchgeknallt? Sie war schon fast bei ihm, mit dem Kuscheldings in den ausgestreckten Armen. Scheiße! So hatte er das nicht geplant. Die Göre machte ihm alles kaputt.

Dann mache ich eben sie zuerst kaputt!, dachte er. Er zog die Pistole aus der Jackentasche hervor, richtete sie auf das Kind und drückte ab.


Als die Polizei ihn schließlich stellen konnte, schoss er sich selbst in den Kopf. Bis dahin hatte er sieben Menschen getötet, darunter die kleine Anni, die immer noch ihr Plüschtier in den Händen hielt.


… sieben, acht, neun. Neun Schläge von der Kirchturmuhr. Neun Uhr. Die Stunde der Entscheidung: Der Mensch ist gut!

Das Mädchen steuerte direkt auf ihn zu, ihr Plüschtier ihm entgegenstreckend, als wollte sie es in seine Arme drücken.

„Das ist Herr Staps“, sagte sie.

Im Augenwinkel sah er, wie einige der Wartenden zu ihnen herüberschauten.

Scheiße, was lief den hier ab?, dachte er. Seine Hand umklammerte fester den Griff der Pistole. Die Kleine kam immer näher. Gleich war sie da. Was sollte er tun?

Abknallen!, forderte etwas in ihm. Die Kontrolle behalten!

Das kannst du nicht machen!, wandte eine andere Stimme ein. Sie ist ein Kind. Sie kann nichts dafür, wie arschig die Welt ist.

Er zögerte. Wenn er handeln wollte, dann musste er es jetzt tun. Kontrolle! Macht! Aber ein Kind!

„Weißt du, Herr Staps kann wirklich gut zuhören.“

Jetzt stand sie vor ihm. Mit dem Plüschding, das sie ihm direkt unter die Nase hielt. Bis auf den schlafenden Mann blickten alle Leute da hinten auf ihn, eine Frau lächelte verlegen, bestimmt die Mutter.

Scheiße! Was sollte er tun? Scheiße! SCHEISSE!

„Herr Staps sagt, er wünscht dir einen richtig schönen Tag.“

Er schluckte. Okay. Dann war das eben so. Seine Hand ließ den Griff der Pistole los, und er fasste stattdessen die ausgestreckte Hand des Plüschteddys.

„Hallo, Herr Staps“, sagte er.

Eine Viertelstunde später wurde Annis Mutter aufgerufen, und Anni musste mit in das Büro gehen.


Er blieb noch zwei Minuten im Gang stehen, dann ging er zur Straßenbahn und fuhr nach Hause. Die Pistole verkaufte er zurück an den Bekannten, von dem er sie bekommen hatte. Unbenutzt. Er wusste selbst nicht, warum, aber er hatte das sichere Gefühl, dass er sie nicht mehr brauchen würde.


… sieben, acht, neun. Neun Schläge von der Kirchturmuhr. Neun Uhr. Die Stunde der Entscheidung: Der Mensch ist nicht Herr seines Tuns!

Das Mädchen hob ihren Teddy in die Höhe und streckte ihn ihm entgegen. „Das ist Herr Staps!“, verkündete sie. Einen Moment war er verwirrt. Mit sowas hatte er nicht gerechnet. Was sollte dieses Theater? Was wollte die Kleine von ihm? Die Leute sahen schon zu ihnen herüber. Er legte den Finger an den Abzug der Pistole in seiner Jackentasche. Noch drei, vier Meter, dann stand sie genau vor ihm. Scheiße!

Der Knall war lauter, als er es sich vorgestellt hatte. Einen Augenblick später flog die Tür von dem Büro auf, an der das Mädchen gerade vorbeiging, und ein Typ in einem Kapuzenpulli stürmte heraus. In der Hand hielt der Typ eine Pistole. Beim Rauslaufen stieß er mit dem Mädchen zusammen, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor.

„Fuck!“, rief der Typ aus, hob seine Pistole und richtete sie auf den Kopf der Kleinen, die vor Schreck erstarrte und sich nicht rührte. Im Hintergrund stieß die Frau einen Schrei aus. Dann spritzte Blut, und der Typ sackte in sich zusammen. Das Kind stand immer noch da wie eine Salzsäule.

Er ließ langsam seinen Arm sinken. Die Schulter tat ihm weh, der Rückstoß war stärker gewesen, als er gedacht hätte. Und es klirrte in seinen Ohren. Knallschaden. Scheiße, was war da gerade passiert?, fragte er sich. Hatte er etwa den Typen abgeknallt, weil der das Mädchen erschießen wollte? Warum wusste er dann nicht mehr, wie er seine Pistole gezogen hatte? Aber er hatte sie gezogen, denn er hielt sie ja noch in der Hand. Also musste er auch geschossen haben. Erst allmählich wurde ihm klar, dass er es gewesen war, der diesen Typen kaltgemacht hatte.

„Alles klar bei dir?“, fragte er das Mädchen. Seine Stimme zitterte leicht, aber das war wohl normal nach dem, was eben passiert war. Scheiße! Nichts an dem, was passiert war, war normal! Ein Amokläufer knallt einen anderen ab. Wann hatte es das denn schon gegeben? Und war er jetzt überhaupt ein Amokläufer? Scheiße! Egal! Hauptsache, die Kleine war in Ordnung!

Er ging in die Knie.

„Alles klar bei dir?“, fragte er noch einmal.

Die Frau war jetzt da. Sie nahm das Mädchen in die Arme, drückte sie fest an sich. Dann schaute sie ihm ins Gesicht. So hatte ihn nie jemand angesehen. Er wusste gar nicht, wie er den Ausdruck deuten sollte. Tränen, bebende Lippen, ein Mund, der sich bewegt, aber keine Worte findet. Dann verstand er, was es war. Dankbarkeit. Sie war ihm dankbar, dass er ihrer Tochter das Leben gerettet hatte. Er. Ausgerechnet er. Ausgerechnet heute. Ey, Mann, das glaubt dir kein Schwein, dachte er.


Als die Polizei eintraf, war der junge Mann, den die Zeugen übereinstimmend als Helden bezeichneten, verschwunden. Der Amokläufer war tot, ebenso wie die Angestellte, die er in ihrem Büro erschossen hatte. Trotz intensiver Suche konnte nie ermittelt werden, wer durch sein beherztes Eingreifen Schlimmeres verhindert hatte.

Es war sein Tag gewesen.