mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Und es ward Mensch

von Olaf Fritsche

Das Tier war schon tot. Vielleicht von einer Hyäne gerissen. Oder von einem Leoparden. Jedenfalls war das nicht lange her, an einigen Stellen war das Blut noch nicht geronnen. Der Vierte steckte einen Finger in die zähe Flüssigkeit und dann in seinen Mund. Es schmeckte gut. Nur selten gab es Fleisch zu essen. Die meisten Tiere waren wachsam und schnell, wenn man sich ihnen näherte. Manchmal gelang es seiner Gruppe trotzdem, eines zu erlegen. Ein kleines Warzenschwein zum Beispiel. Aber man musste aufpassen, dass einen dabei nicht die Mutter erwischte. Warzenschweine sind gefährlich. Sie können böse Wunden reißen, und wenn die nicht richtig verheilen, hat man ein schlimmes Bein so wie der Alte. Besser, man fand ein Tier, das schon tot war, so wie dieses. Heute wird es Fleisch geben.

Der Vierte griff ein Hinterbein des Tieres und zog daran. Seine Gruppe lagerte nicht weit entfernt, gleich hinter dem Hügel. Eigentlich war er aufgebrochen, um nach Wurzeln zu graben. Wurzeln schmeckten nicht schlecht, sie waren saftig und stillten den Hunger. Aber Fleisch war besser. Viel besser. Darum konnte er die Wurzeln sein lassen, und der Erste wird trotzdem nicht böse sein. Keiner wird böse sein. Alle werden sich freuen. Auch die Zweite. Sie wird sich freuen, und er wird sich neben sie gesellen, und er wird dafür sorgen, dass sie ein bisschen früher Fleisch bekommt, als ihr zusteht. Er hatte das Tier gefunden, deshalb darf er sich als zweiter nehmen, gleich nach dem Ersten. Er wird sich als zweiter nehmen und ein gutes Stück davon der Zweiten abgeben. Und nachts, wenn alle schlafen, wird er sich zu ihr legen, und dann wird er sich mit ihr paaren. Ganz leise, damit der Erste es nicht hört. Der Erste durfte davon nichts erfahren. Er wollte alle Weiblichen für sich haben, auch die Zweite. Alle anderen Männlichen durften sich nicht mit den Weiblichen paaren, das durfte nur der Erste. Als Vierter durfte er sich nie paaren. Aber er wollte es tun. Wollte es jeden Tag, jeden Abend und jede Nacht. Doch er durfte es nicht. Nur heimlich. Wenn er nicht erwischt wurde.

Der Fünfte war einmal erwischt worden. Er hatte sich in der Nacht zu der Siebten geschlichen und sich mit ihr gepaart. Aber sie waren zu laut gewesen. Der Dritte hatte es gehört, er hatte nachgesehen, und dann hatte er vor Aufregung Krach gemacht. Als der Erste hinzukam, steckte der Fünfte noch in der Siebten drin, und er konnte nicht schnell genug weglaufen. Der Erste und der Dritte haben ihn geschlagen. Mit den Händen, mit den Füßen und mit Stöcken. Am nächsten Morgen konnte der Fünfte sich kaum rühren, aber die Gruppe ist weitergezogen. Ohne ihn. Als sie einen Monat später an diesen Ort zurückkamen, war der Fünfte nicht mehr da. Sicherlich haben ihn die Tiere gefressen. Man musste leise sein, wenn man sich heimlich paarte. Der Vierte wird gut aufpassen.

Er blieb stehen und ließ das Bein des toten Tieres los. Das Blut hatte gut geschmeckt, er wollte noch einmal davon kosten. Es war nun weiter geronnen und zäher. Mit den Fingern löste der Vierte ein Bröckchen verkrustetes Blut. Bevor er es in den Mund steckte, roch er daran. Es war gutes Blut. Die Zweite wird ihm dankbar sein und ihn an sich heranlassen.

Der Erste war stark. Er konnte größere Steine hochheben als alle anderen Männlichen in der Gruppe. Und er war mutig. Letzten Sommer, als die Paviane angriffen, hatte er alleine mit einem Stock gegen den Ersten und den Zweiten von den Pavianen gekämpft. Er hatte die Paviane verjagt und die ganze Gruppe gerettet. Es war gut, dass er der Erste war. Jede Gruppe brauchte einen starken Ersten. Der Vierte wäre nicht gerne der Erste. Er war nicht mutig, und er kämpfte nicht gerne. Er kämpfte nur, wenn es sein musste. Wenn er herausgefordert wurde. Dann war es wichtig, seinen Rang zu verteidigen. Wer einen niedrigen Rang hatte, bekam weniger zu essen. Der musste die schlechten Arbeiten machen, und er musste außen schlafen, wo es am kältesten und am gefährlichsten war, wenn die Hyänen kamen. Und er durfte sich nicht mit den Weiblichen paaren. Das durfte nur der Erste. Dabei dachten alle Männlichen ständig an das Paaren. Oder an das Essen. Der Vierte wäre beim Paaren und beim Essen gerne der Erste, aber nicht beim Kämpfen.

Während der Vierte nachdachte, näherte er sich dem Lager. Die Männlichen saßen faul herum und dösten. Die Weiblichen hockten im Kreis auf dem Boden. Ihre Hände fuhren vor und zurück. Sie lasen Grassamen vom Boden auf. Der Vierte lachte vor Freude laut auf. Er brachte etwas Besseres! Er brachte Fleisch! Sein Lachen machte die Weiblichen auf ihn aufmerksam. Sie hoben die Köpfe und blickten zu ihm herüber. Auch die Zweite schaute ihn an. Ihn und das tote Tier. Als sie erkannte, was er hinter sich herzog, sprang sie hoch und zeigte wild gestikulierend in seine Richtung. Das riss die Männlichen aus ihrer Trägheit. Sie sahen zu dem Vierten, zu dem Tier, und dann liefen alle lachend und rufend auf ihn zu. Die ganze Gruppe. Doch der Vierte sah nur die Zweite. Sie freute sich, und der Vierte wusste, dass sie ihm heute Nacht erlauben wird, sich mit ihr zu paaren. Deswegen lachte auch er, und die Gruppe veranstaltete ein lautes Geschrei, als sie bei ihm ankam. Sie hatten Fleisch, und der Vierte hatte es ihnen gebracht. Der Erste nahm ihm das Tier ab und nickte dem Vierten dabei zu.

Unter ausgelassenem Jubel zerrten sie das Tier zum Lagerplatz. Der Älteste brachte die scharfen Steine, die er stets mit sich trug, wenn die Gruppe zu einem neuen Platz zog. Der Erste trennte mit den Steinen die Beine und den Kopf vom Tier ab. Dann schnitt er das Fleisch von den Knochen. Dabei steckte er sich Stücke in den Mund. Große Stücke. Gute Stücke. Die anderen sahen ihm zu, wie das Blut aus seinem Mund tropfte, und aus ihren Mündern floss der Speichel. Doch sie mussten warten, bis sich der Erste satt gegessen hatte. So waren die Regeln. Als der Bauch des Ersten schon dick und prall war, gab er den scharfen Stein endlich weiter an den Vierten. Der Vierte hatte das Tier gefunden, deshalb durfte er sich nach dem Ersten bedienen. Hastig hieb er mit dem Stein auf das Fleisch ein, riss große Fetzen davon ab. Er musste sich beeilen, denn die anderen Männlichen warteten nicht so lange, bis er satt war. Darum schluckte er das Fleisch ohne zu kauen und stopfte sich die Backentaschen damit voll. Schon griffen gierige Hände nach dem Stein und wanden das Werkzeug aus seinen Fingern.

Der Vierte wurde nach hinten gedrängt, wo die Weiblichen standen. Sie durften immer als letzte essen. Der Vierte hörte, wie ihre Mägen knurrten und ihre Lippen schmatzten. Ihre Augen waren fest auf das Fleisch gerichtet. Der Vierte schob sich neben die Zweite. Er steckte sich die Finger in den Mund und zog ein Stück Fleisch aus seiner Backentasche. In der geschlossenen Hand hob er es vor den Mund der Zweiten und schob es zwischen ihre Lippen. Die Zweite öffnete überrascht weit die Augen, doch sie löste nicht den Blick von der Gruppe essender Männlicher und dem toten Tier. Mit den Zähnen und der Zunge zog sie rasch das Fleisch aus der Hand des Vierten in ihre Mundhöhle. Dann ließ sie zu, dass er ihr einen weiteren Brocken gab und dass er sie mit der Hand kurz zwischen ihren Beinen berührte. Er wollte sich mit ihr paaren. Er hatte ihr von seinem Fleisch gegeben. Sie wird es ihm heute Nacht erlauben.


Als es dunkel wurde, waren alle Mitglieder der Gruppe satt und müde. Jeder hatte so viel essen dürfen, wie er konnte. Die ersten schliefen bald, und als der Mond aufging, war nur der Vierte wach. Trotzdem wartete er, bis der Mond so weit über dem Horizont stand, wie seine Hand breit war. Dann kroch er langsam zum Schlafplatz der Zweiten. Im Traum machte sie Kaubewegungen. Als der Vierte die Zweite am Kopf berührte, öffnete sie die Augen. Im Mondlicht erkannte sie, dass er es war. Sie brummte zustimmend und drehte sich auf die Seite. Das Hinterteil streckte sie ihm entgegen, und er begann, sich mit ihr zu paaren.

Nach dem ersten Mal machte er eine Pause. An ihrem ruhigen Atem erkannte er, dass die Zweite erneut eingeschlafen war. Sie lag genau in der gleichen Position wie beim Paaren, also setzte er an, sich noch einmal in sie zu begeben. Ein wütender Schrei von hinten erschreckte ihn, sodass er sich gleich wieder aus der Zweiten zurückzog. Er fuhr herum und sah, wie der Dritte mit wutverzerrtem Gesicht auf ihn zulief. Das Gebrüll weckte die anderen. Sie beobachteten, wie der Vierte dicht bei der Zweiten am Boden kauerte und schützend die Arme über seinen Kopf hielt, während der Dritte mit den Händen auf den Vierten einschlug. Sie wussten sofort, was geschehen war, und sprangen auf, um ebenfalls den Vierten für seinen Verstoß gegen die Regeln zu bestrafen. Aber sie wichen alle zurück, als der Erste mit einem Ast in der Hand herankam. Keiner wollte von dem Ast getroffen werden. Schläge mit dem Ast waren schlimm. Sie taten weh, und sie konnten schwer verletzen. Doch bevor der Erste den Vierten erreichte, sprang der Vierte auf und lief in die Dunkelheit. Erstaunt schaute die Gruppe ihm nach, wie er hinter dem Hügel verschwand. Niemand folgte ihm. Die Dunkelheit war gefährlich. In der Dunkelheit lauerten wilde Tiere. Sogar der Erste schwang nur wütend den Ast, doch er blieb im Lager. Die Gruppe rief eine Weile aufgeregt durcheinander, dann legten sich alle wieder zum Schlafen.


Der Vierte lief, bis ihm die Seiten stachen. Keuchend blieb er stehen. Er stützte die Hände auf die Knie und erbrach das Fleisch, das er vor wenigen Stunden gegessen hatte. Das gute Fleisch. Jetzt lag es im Sand, angefressen von seinem Magensaft. Er richtete sich auf und lauschte. Es waren keine Schritte zu hören. Auch sah er in der Dunkelheit keine Silhouetten. Der Erste war ihm nicht gefolgt. Das war gut. Er war allein. Das war nicht gut. Allein konnte man nicht überleben. Man fand nicht genug Nahrung und hatte keinen Schutz vor wilden Tieren. Er durfte nicht allein bleiben. Er musste zurück. Aber da war der Erste, und der wird ihn mit dem Ast schlagen. Er konnte nicht zurück. Der Vierte musste nachdenken. Der Erste war das Problem. Wenn der Erste nicht da wäre, würde ihn niemand schlagen. Der Dritte hatte ihn mit den Händen gehauen, aber das war nur, weil er sich auch gerne mit den Weiblichen paaren wollte und es nicht durfte. Der Dritte war kein Problem. Nur der Erste war eines. Der Erste musste weg. Dann konnte der Vierte zurück zu seiner Gruppe und überleben.

Wie konnte er machen, dass der Erste nicht mehr da war? Wenn er ein Löwe wäre, könnte er den Ersten fressen. Das war nicht einfach, denn die Gruppe waren viele, und sie beschützten einander. Auch für einen Löwen war es gefährlich, jemanden aus der Gruppe anzugreifen. Außerdem war er kein Löwe. Er konnte den Ersten zum Kampf herausfordern und ihn besiegen. So hatte der Erste den Alten besiegt und dessen Stellung eingenommen. Aber der Erste war viel stärker als der Vierte, deshalb würde der Vierte niemals gewinnen. Nicht, solange sie miteinander kämpften wie zwei Löwen, Auge in Auge. Aber er war kein Löwe. Warum sollte er wie einer kämpfen? Er konnte es so machen, dass der Erste gar nicht wusste, dass er kämpfen musste. Er konnte den Ersten angreifen, während er schlief. Und er konnte ihn so schlagen, dass er sich nicht wehren konnte. Der Vierte blickte auf seine Hände. Sie waren zu schwach, um den Ersten zu besiegen. Sogar, wenn sie einen Ast benutzten. Der Erste würde aufwachen, ihm den Ast wegnehmen und ihn damit verprügeln. Ein Ast war nicht genug. Der Erste durfte nicht aufwachen. Ein Stein war besser. Wenn die Gruppe jagen ging, erschlugen sie das Schwein mit einem Stein. Ein Stein war hart. Ein großer Stein konnte einen Schädel mit einem Schlag zertrümmern. Mit solch einem Stein konnte er den Schädel des Ersten einschlagen, und der Erste würde nicht aufstehen und zurückschlagen. Ein Stein war gut. Der Vierte stand auf. Er war zufrieden. Er hatte gut gedacht und eine gute Lösung gefunden. Langsam ging er zurück in Richtung des Lagers. Unterwegs wollte er einen guten Stein suchen.


Als sich der Vierte ins Lager schlich, schliefen die anderen. Der Erste hatte sich neben die Zweite gelegt. Bestimmt hatten sie sich gepaart, aber jetzt schliefen sie. Der Vierte stellte sich an den Kopf des Ersten. Er hob den schweren Stein, den er gefunden hatte, bereit, ihn auf den Schädel des Ersten niedersausen zu lassen. Der Erste lag sehr nah bei der Zweiten. Der Stein durfte nicht die Zweite treffen. Das wäre nicht gut. Aber der Vierte hatte das schon oft bei Schweinen gemacht. Er konnte gut mit dem Stein zuschlagen.

Es krachte wie beim Brechen eines dicken Astes. Das Gehirn des Ersten war grau, sein Blut war rot. Grau und Rot spritzten über die Füße des Vierten und der Zweiten ins Gesicht. Sie wachte auf, als die Matsche vom Ersten sie traf. Die Zweite schreckte hoch. Sie sah den Ersten mit zertrümmertem Schädel neben sich liegen, davor stand der Vierte mit dem Ausdruck des Sieges im Gesicht. Ein roter Brocken Matsch fiel aus ihrem Haar. Sie tastete ihren eigenen Kopf ab. Er war unversehrt. Aber da war noch mehr Matsch. Sie hielt sich ein Stück dicht vor die Augen, um es genauer zu betrachten. Dann fing sie an zu schreien.


Die Gruppe beratschlagte, bis die Sonne aufging. Der Vierte musste abseits stehen. Sie wollten nicht, dass er ihnen zu nahe kam. Der Vierte hatte den Ersten getötet wie ein Schwein. Der Alte konnte sich nicht erinnern, dass schon einmal jemand aus der Gruppe einen anderen getötet hatte. Sie wussten nicht, was sie jetzt tun sollten. Es gab keine Regel, die sie anwenden konnten. Also mussten sie eine neue Regel aufstellen. Aber sie hatten noch nie Regeln aufgestellt. Die anderen Regeln waren immer von selbst entstanden. Sie hatten etwas getan, und das war dann zur Regel geworden. Nun hatte der Vierte etwas getan, und was sie jetzt machten, würde die neue Regel sein. Was sollten sie machen? Die Neunte wollte den Vierten mit dem Stein erschlagen, wie er es beim Ersten gemacht hatte. Aber niemand achtete darauf, was die Neunte wollte, und sie war zu schwach, um selbst den schweren Stein zu heben. Der Honigvogel rief, als der Alte eine Entscheidung fällte. Er war früher einmal Erster gewesen, er wusste, wie man Entscheidungen fällte, und er stellte die neue Regel auf.

Sie verstießen den Vierten. Er gehörte nicht mehr zu ihrer Gruppe. Er durfte nicht mehr bei ihnen sein, wurde nicht mehr von ihnen beschützt und bekam nichts mehr von ihrem Essen ab. Auch vom Rest des toten Tieres, das er gefunden hatte, gehörte ihm kein Anteil mehr. Die Neunte warf noch einen Stein nach ihm, als die Gruppe am Mittag aufbrach und den Vierten hinter sich ließ. Aber es war nur ein kleiner Stein, und sie traf ihn nicht. Der Vierte stand da und schaute ihnen hinterher. Wie sie davongingen und immer kleiner wurden. Ohne ihn. Bis sie nicht mehr zu sehen waren. Die Menschen.