mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Reife Morde

von Olaf Fritsche

Niemand, der Alberta Brown kannte oder ihr flüchtig begegnete, würde jemals etwas Böses von der freundlichen Lady denken. Sie war klein, zierlich und zählte vermutlich schon um die 80 Jahre, obwohl das nicht einmal ihre Betreuerinnen im Seniorenheim mit Bestimmtheit sagen konnten, denn als Dame legte Alberta Wert darauf, ihr wahres Alter für sich zu behalten. Wegen ihrer positiven Ausstrahlung und der munteren Art, mit der sie selbst dem eigenbrötlerischsten Griesgram dann und wann ein ungewolltes Lächeln entlockte, erfreute sie sich allgemeiner Beliebtheit. Ja, sie war so etwas wie der Sonnenschein der Einrichtung. Und sie war eine Profikillerin.

Genau genommen betrieb Alberta ihr Gewerbe nicht mehr professionell, denn sie nahm kein Geld für ihre Dienstleistung. Das hatte sie über ein halbes Jahrhundert getan und sich ein hübsches Sümmchen angespart, sodass sie sich ohne Geldsorgen den Platz in der Morgenröte leisten konnte. Ursprünglich wollte sie sich hier zur Ruhe setzen, doch es widerstrebte ihrer Natur, sich die Zeit mit Stricken, Bingo und Blumengestecken zu vertreiben. Darum war sie weiterhin aus Liebhaberei als Auftragsmörderin aktiv. Und durchaus rührig. An die drei Dutzend „Klienten“ hatte sie seit ihrem Einzug ins Heim „bedient“.

Es hätten weitaus mehr sein können, wenn es in der Morgenröte nicht so schwierig wäre, ohne Begleitung Ausgang zu erhalten. Die Betreuerinnen waren äußerst besorgt um die Gesundheit ihrer Schützlinge, und die Leitung bestand auf dem ehernen Grundsatz, dass die Bewohner das Heim ausschließlich unter der Obhut eines Familienangehörigen oder einer Mitarbeiterin verlassen durften. Anfangs hatte Alberta deshalb ihre Anstandsdame immer abgeschüttelt. Zielstrebig steuerte sie die dichtesten Menschenansammlungen in der Stadt an und ging im Gewühl verloren. Oder sie wollte sich mal eben die Nase pudern und entschwand durch das Toilettenfenster. Keine der Betreuerinnen, denen Alberta abhandengekommen war, brachte anschließend den Mut auf, den Vorfall zu melden. Wer wollte sich schon nachsagen lassen, nicht in der Lage zu sein, auf eine 80-Jährige aufzupassen. Doch dann kam Edith, und mit ihr wurde alles leichter. Edith war fleißig, aber nicht sonderlich gewissenhaft. Außerdem war sie jung und verliebt, und so traf Alberta bald mit ihr die Abmachung, dass jede auf eigene Faust ihrer Wege zog, sobald das Heim außer Sicht war. Zur verabredeten Uhrzeit trafen sie sich in einem Café und stimmten ab, was sie angeblich miteinander unternommen hatten. Es war ein ehrenwertes Arrangement zu beider Vorteil, und es hätte viele Jahre so weitergehen können, hätte Alberta nicht diesen verhängnisvollen Auftrag angenommen.

Für den Großteil der Bewohner des Seniorenheims war das Internet ein Buch mit mindestens sieben Siegeln. Für Alberta war es ein Segen. Früher hatte sie sich immer direkt mit ihren Auftraggebern getroffen und war dabei jedes Mal Gefahr gelaufen, in eine Falle zu tappen. Das geringste Risiko bestand darin, dass sie jemand anheuerte, den die Polizei beschattete. Mehrmals wäre sie wegen derartiger Umstände um ein Haar verhaftet worden. Richtig knapp wurde es, als Europol ihr einmal selbst auf die Schliche kam und ein fingiertes Treffen abmachte. Damals entging Alberta nur deshalb ihrer Verhaftung, weil sie sich rechtzeitig gebrechlich und verwirrt gab. Und dann war da der Auftrag, hinter dem der Cousin eines früheren Klienten von ihr steckte, der Rache für den Tod seines Familienmitglieds wollte. Alberta spürte schon das Messer an ihrer Rippe, als sie im letzten Moment das Duell für sich entschieden, indem sie dem Angreifer einen langen Eislöffel ins Auge rammte. Doch dank Internet waren solche Unannehmlichkeiten Vergangenheit. Heute erhielt sie die Dossiers mit allen Angaben zum Aussehen und den Gewohnheiten ihrer Klienten über eine verschlüsselte Datei im Darknet. Und dieser neue Fall war vorbildlich vorbereitet.

Alberta und Edith verließen das Heim zur üblichen Zeit und verabschiedeten sich wie gewöhnlich an der nächsten Ecke voneinander. Alberta spazierte zwei Straßen weiter und stieg in den Bus zum Bahnhof. Da es an diesem Tag windstill war, hatte sie sich für das Kontaktgift im Parfumzerstäuber entschieden. Kommenden Monat lief dessen Haltbarkeitsdatum ab, und wer wusste schon sicher, wie bald danach die Wirksamkeit nachließ. Tödliche Gifte waren teuer, und obwohl Alberta nicht auf den Cent schauen musste, war sie doch der Ansicht, man dürfe solch herrliche Geschenke der Natur nicht ungenutzt verkommen lassen. Obendrein hatte sie die Hutnadelnummer das letzte Mal durchgezogen, und sie wollte es der Polizei nicht zu leicht machen, ein Muster zu erkennen.

Am Bahnhof holte sie die Handtasche mit dem Zerstäuber aus dem Schließfach und deponierte stattdessen die Tasche, mit der sie gekommen war. Dann nahm sie den Bus in Richtung Zentrum. Laut Dossier legte ihr Klient dort immer zur gleichen Zeit denselben Weg zurück, um sich mit einer Geliebten zu treffen. Gewohnheiten können tödlich sein, dachte Alberta, als sie ihn wenige Minuten später an sich vorbeispazieren sah. Sie stellte die Erdbeeren wieder in die Auslage des Obst- und Gemüsehändlers, an dessen Stand sie auf den Mann gewartet hatte, und folgte ihm. Er ging nicht allzu schnell, und außerdem wusste sie, wohin er wollte. Deshalb hielt sie ein bisschen Abstand, was niemals schadete, für den Fall, dass jemand misstrauisch war.

Er schaute sich kein einziges Mal um. Das war ungewöhnlich. Normalerweise wussten Albertas Klienten durchaus, dass sie gefährlich lebten, und nicht selten hatten sie Leibwächter dabei, weshalb Albertas Auftraggeber die Arbeit nicht selbst erledigten, sondern auf einen zuverlässigen Dienstleister wie sie setzten. Dieser Mann marschierte hingegen mit offensichtlich unbekümmerter Ahnungslosigkeit in eine Einkaufspassage, suchte auf kürzestem Weg ein Bistro auf und nahm an einem Tisch mitten im Raum Platz, sodass sich selbst ein Kind an ihn heranschleichen könnte. Wen hast du bloß so verärgert, dass du auf meiner Liste gelandet bist?, fragte sich Alberta. Sie wählte einen freien Ecktisch im hinteren Teil des Bistros, wo sie mit dem Rücken zur Wand und unauffällig im Halbdunkel saß. Eine ihrer Regeln lautete, nicht sofort zuzuschlagen, sondern zuvor ein paar Minuten abzuwarten, ob nicht irgendetwas ihren Verdacht erregte. Es war durchaus nicht einfach, in ihrem Metier alt zu werden, und wer es eilig hatte, fand sich allzu früh in einem Sarg wieder.

Ihre Vorsicht war offenbar nicht unbegründet. Für Albertas Geschmack schaute der Barkeeper eine Spur zu häufig und zu forschend zu ihrem Klienten. Zwei andere Gäste hatten sich an ihren Tischen so positioniert, dass sie ihn ebenfalls ständig im Blick hatten, und ein Stückchen weiter in der Passage interessierte sich ein bulliger Schrank von Kerl erstaunlich intensiv für ein Sudokuheft, das er verkehrt herum in Händen hielt. Bandenkrieg oder organisierte Kriminalität!, schoss es Alberta durch den Kopf. Die wollen sich nicht selbst die Finger schmutzig machen, aber sichergehen, dass ich meinen Auftrag erledige. Sie rümpfte die Nase. Es passte ihr überhaupt nicht, bei der Arbeit kontrolliert zu werden. Einen Moment überlegte sie, ob sie kurzerhand gehen und die ganze Sache vergessen sollte, als jemand Weiteres das Bistro betrat. Und damit änderte sich alles. Herein kam ... Edith!

Instinktiv hob Alberta die Speisekarte höher, sodass nur ihre Augen über den Rand lugten und beobachteten, wie Ediths Gesicht erstrahlte, sie freudig auf den Mann am Tisch in der Mitte zulief und ihn unter Küssen umarmte. Alberta schluckte trocken. Das durfte doch nicht wahr sein! Ihr Klient war ausgerechnet der Freund ihrer Betreuerin und Heimfluchtkomplizin Edith? Fand das Schicksal so etwas lustig?

Die beiden turtelten miteinander herum, während Alberta überlegte, was sie tun sollte. Ihre Ehre als Profikillerin gebot ihr, den Auftrag durchzuziehen, egal, mit wem ihr Klient liiert sein mochte. Ein Auftrag war nun mal ein Auftrag. Aber dieser Auftrag stank zum Himmel. Der Jüngling neben Edith war kein typischer Klient, sondern ein naives Bürschlein, das nicht den Hauch eines Schimmers hatte, wie nah es einem abrupten Tode war. Er passte zur unbekümmerten Edith, und Alberta wollte nicht diejenige sein, die beide ins Verderben stieß. Wer konnte schon sagen, wie Edith darauf reagierte? Womöglich fiel sie in Depressionen und schmiss ihren Job im Heim hin, und dann musste Alberta wieder mit anderen Betreuerinnen losziehen und diese mühevoll abschütteln, um in Ruhe zu arbeiten. Genau: In Ruhe arbeiten! Ohne Überwachung! Albertas Blick wanderte zwischen den vier Gorillas, die sie vorhin ausgemacht hatte, hin und her. Was fiel ihrem Auftraggeber überhaupt ein, diese Kontrolleure auf sie anzusetzen? Reichte dem etwa nicht der Ruf, den sie hatte?

Alberta hielt erneut die Speisekarte vors Gesicht. Edith war aufgestanden und schritt an ihr vorbei zur Toilette. Damit war die Zeit zum Handeln gekommen. Im Grunde hatte die ganze Grübelei sowieso nur dazu gedient, vor sich selbst zu rechtfertigen, wofür sie sich längst entschieden hatte. Alberta erhob sich absichtlich unbeholfen von ihrem Stuhl und folgte Edith. Unterwegs wühlte sie eine Tube Sekundenkleber aus ihrer Handtasche. Es war eine der praktischen Kleinigkeiten, die sich in jeder ihrer geheimen beruflichen Taschen befanden und die mitzunehmen sich immer irgendwann auszahlte. Sie wartete, bis Edith in einer Kabine verschwunden war, dann bestrich sie den Schnapper am Schloss der Tür zum Ladysroom mit dem Kleber und schloss die Tür. Bis Edith ihre private Angelegenheit erledigt hatte, wäre der Kraftkleber getrocknet und Edith eingesperrt und aus der Schusslinie.

Alberta tauschte die Tube gegen den Giftzerstäuber und begab sich auf den Rückweg in den Gastraum des Bistros. Ihr Auftraggeber wusste nicht, wer sie war, und hinter dem Decknamen Zerberus vermutete sicher niemand eine alte Dame. Das war wichtig für die Aktion, die sie nun vorhatte. Im Vorbeigehen an der Theke sprühte sie dem Barkeeper eine ordentliche Portion des Kontaktgiftes ins Gesicht. Instinktiv wischte er sich mit der Hand über Augen, Nase und Mund, was Alberta befriedigend im Augenwinkel mitbekam. Gut so! Damit massierte er das Toxin in die Haut ein. In weniger als einer Minute wird er tot umfallen.

„Komm mit!“, befahl sie in einem barschen Ton. Sie packte Ediths Freund mit festem Griff am Oberarm und zog ihn von seinem Stuhl hoch. Mit der freien Hand schob sie seinen Espresso vom Tablet und nahm die Metallplatte an sich. „Wir gehen!“

„Ich ... Nein! ... Was soll das?“

Überrascht versuchte der Mann, seinen Arm loszureißen. Alberta drückte ihren Daumen auf einen Nervenknoten, sodass er aufschrie. Sie sah, wie die beiden Ganoven an dem Bistrotisch einen erstaunten Blick wechselten und sich erhoben. Das könnte eng werden. Doch in diesem Augenblick klappte der Barkeeper zusammen und riss im Fallen eine Reihe Flaschen und Gläser zu Boden. Der Lärm lenkte das Duo für den entscheidenden Moment ab.

„Mitkommen, oder du bist tot!“, zischte Alberta. Völlig verdattert ließ sich Ediths Freund von ihr aus dem Lokal ziehen. Alberta führte ihn mit schnellen Schritten durch die Einkaufspassage. Sie hatten nur ein paar Sekunden Vorsprung, die mussten reichen.

Kaum hatten sie die Passage verlassen, lenkte Alberta ihren Schützling in eine Seitengasse, die so düster aussah, dass er sie vermutlich nicht alleine betreten hätte. Überquellende Mülltonnen an den Seiten erfüllten die ganze Straße mit Gestank, und ein Punker, der sich vor kurzem irgendwelchen schmutzigen Stoff reingezogen hatte, lehnte an einer Häuserwand.

„Hören Sie mal ...“, setzte Ediths Freund an. „Ich verlange auf der Stelle eine Erklärung, was ...“

„Später!“ Alberta blieb stehen. Hinter ihnen erklang das Geräusch laufender Schritte, die rasch näherkamen. Sie schubste den jungen Mann zur Seite. „Bleib da stehen, und rühr dich nicht!“

Ehe Ediths Freund protestieren konnte, stürmten die beiden Schläger aus dem Bistro um die Ecke. Der vordere hatte ein Messer in der Hand, mit dem er ohne Umschweife nach Albertas Bauch stieß. Es ertönte ein metallisches Klong!, als Alberta die Klinge mit dem Metalltablett aus dem Bistro abwehrte und es dem Angreifer im gleichen Bruchteil einer Sekunde gegen den Kehlkopf rammte. Erschrocken griff sich der Gangster an den Hals. In der Aufwärtsbewegung packte Alberta seine Messerhand und lenkte sie so, dass ihm die Klinge in die Halsschlagader fuhr. Blut spritzte in hohem Bogen, und der Mann sackte röchelnd auf den Asphalt.

Sein Kumpane zog eine Pistole, doch Alberta war schon neben ihm. Sie trat gegen sein Knie und drehte die Hand des vor Schmerz aufschreienden Angreifers so, dass die Mündung auf sein eigenes Gesicht gerichtet war. Dann drückte sie dreimal in schneller Folge ab. Die Knalle hallten verstärkt von den Wänden der engen Gasse wider. Es regnete Blut und Gehirnmasse.

„Voll mega!“, brüllte der Punker beeindruckt. Alberta warf ihm die Pistole zu, die er trotz seines Zustands automatisch auffing.

„Sieh zu, dass du die Knarre verschwinden lässt! Da sind jetzt deine Fingerabdrücke drauf. Erklär den Bullen mal, dass du trotzdem nichts mit der Sache hier zu tun hast.“

Der Punker starrte einen Moment auf die Pistole in seinen Händen. Dann weiteten sich seine Augen, und unter ständigem Scheiße!-Gemurmel lief er immer schneller werdend in die Gasse hinein.

„Wir müssen auch hier weg!“ Alberta erneuerte ihren Griff um den Oberarm von Ediths Freund, der so geschockt war, dass er es widerstandslos geschehen ließ. „Einer von denen ist noch unterwegs.“

„Erzähl mal, Jungchen“, forderte sie, während sie den mittlerweile willenlosen Mann mit sich zog. Zum Ende der Gasse, dann rechts herum und in den Park. „Wer ist so wild darauf, dich ins Jenseits zu befördern?“

„Ich ... Wie? Sie ... Sie haben die Leute da umgebracht!“

„Weil sie das sonst mit uns gemacht hätten.“ Alberta führte ihn gezielt über die Rasenflächen. Unter normalen Umständen wäre sie auf den Kieswegen geblieben. Doch dafür blieb jetzt keine Zeit. Sie mussten unbedingt ihr Depot für Notfälle wie diesen erreichen, bevor sie der letzte Gorilla aufspürte. „Besser gesagt: Mit dir hätten sie das gemacht. Also: Weshalb? Was hast du denen angetan?“

„Ich? Nichts!“ Ediths Freund wirkte ehrlich entrüstet, soweit dies im Laufschritt möglich war.

„Denk nach, Jungchen!“, forderte Alberta. Sie hielt abrupt an, schaute sich einmal um und stieß ihn in ein Gebüsch. Eine Sekunde später zwängte sie sich selbst durch das Gestrüpp. „Niemand setzt einen Killer und vier Galgenvögel nur zum Spaß auf jemanden an.“

Sie standen bei einer fast vollständig zugewucherten, vergessenen Parkbank. Alberta bückte sich und griff unter den halb verrosteten Abfallkorb neben der Bank. Sie zog ein Päckchen hervor, riss es auf und entnahm ihm einen Gegenstand, der entfernte Ähnlichkeit mit einer Fernsehfernbedienung aufwies.

„Naja, eine Sache gibt es da vielleicht“, gab Ediths Freund nach kurzem Nachdenken zu. „Vor ein paar Wochen habe ich mit meinem Auto einen Transporter eingeparkt, der sich bescheuert vor die Einfahrt zum Hausparkplatz gestellt hatte. Als ich zurückkam, war da ein riesiges Polizeiaufgebot. Solche mit Skimasken und schusssicheren Westen und so. Es hatte sich herausgestellt, dass der Transporter vollgestopft mit Drogen war, und wegen meines Autos konnten die nicht abhauen.“ Alberta steckte den Apparat aus dem Päckchen in ihre Handtasche.

„Du lässt einen riesigen Drogendeal auffliegen und hast keine Ahnung, warum man dich umbringen will?“ Sie schüttelte den Kopf. „Meine Güte, ich hoffe, Edith passt gut auf dich auf, wenn das hier vorbei ist.“

„Edith? Sie kennen Edith?“

Statt zu antworten, schob Alberta ihn aus dem Versteck zurück auf den Kiesweg. Sie sah sich aufmerksam um. In zweihundert Metern Entfernung am Rande des Parks erblickte sie den Schrank aus dem Bistro, wie er nach ihnen suchte.

„Was hat Edith mit dem hier zu tun?“ Ediths Freund hatte die Stimme erhoben, sodass der Schrank auf sie aufmerksam wurde. Er schnaubte ärgerlich und setzte zu einem Spurt an.

„Nichts! Gar nichts! Dies ist alleine deine Show!“ Alberta kniff die Lippen zusammen. Gleich würde der Schrank hier sein. Sie mussten so schnell wie möglich weg. Mit der ganzen Kraft ihrer 80 Jahre hetzte sie Ediths Freund durch den Park.

Sie kamen nicht weit. Mitten auf einer Brücke, unter der eine vielbefahrene Hauptstraße entlangführte, holte der Schrank sie ein. Lässig stieß er Alberta beiseite. Mit der alten Frau hatte er nichts zu schaffen. Sein Boss wollte bloß diesen kleinen Spießer loswerden, der ihn eine Millionenladung feinsten Stoffes gekostet hatte. Und der trotz seiner Erscheinung als typischer Waschlappen drei gute Männer auf dem Gewissen hatte.

„Sprich dein letztes Gebet!“ Bedrohlich baute sich der Schrank vor Ediths Freund auf, der sich keuchend die Seiten hielt. Doch statt seiner antwortete von hinten eine krächzende Frauenstimme.

„Amen!“, sagte Alberta und presste dem Schrank ihren Elektroschocker in die Nierengegend. Es war eines ihrer modifizierten Modelle, das eine dreifache und mit absoluter Sicherheit tödliche Ladung verabreichte. Nicht elegant, aber effektiv, wenn es drauf ankam. Der Schrank bäumte sich zuckend auf, und als er zur Seite kippte, stürzte er über das Geländer der Brücke auf die darunterliegende Straße. Alberta hörte einen dumpfen Schlag, quietschende Reifen, und aufeinanderprallendes Blech.

„Auch gut“, murmelte sie. Mit geübtem Griff verhinderte sie, dass sich Ediths Freund über die Brüstung beugte und nach unten sah. „Das ist nichts für dich, Jüngchen! Davon träumst du nur schlecht.“ Sie ließ ihn los und lächelte zufrieden.

„Und was jetzt?“ Ediths Freund schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er verstand die Welt nicht mehr und hoffte insgeheim, dass dies alles ein Traum oder ein Spaß mit versteckter Kamera war. Doch anstelle eines TV-Moderators strahlte ihn nur diese alte Frau an.

„Jetzt gehen wir zurück zu Edith.“


Am nächsten Morgen zeigte Edith aufgeregt die Lokalzeitung herum, auf deren Titelseite in großen Lettern „Bandenkrieg in der City“ zu lesen war.

„Stellt euch vor: Da war ich mittendrin“, erzählte sie mit ehrfurchtsvoll zitternder Stimme. „Ich steckte in dem Klo fest, wo der erste Gangster getötet wurde.“

„Und Alberta? Die war doch bei dir. Was ist mit der geschehen?“, wollten die anderen Betreuerinnen wissen.

„Ich hab das wohl verschlafen“, antwortete Alberta ruhig. „Wisst ihr, die Hektik in der Stadt macht mich manchmal so müde.“

Und dann lächelte sie ihr Alberta-Lächeln, das nur sie konnte und das alle so gerne mochten.

Von der E-Mail, die sie am vorhergehenden Abend über das Darknet an ihren Auftraggeber geschickt hatte, sagte sie nichts. Auch nicht davon, dass sie ihm angedroht hatte, er würde noch mehr seiner Leute und vor allem seinen eigenen Kopf verlieren, wenn er den jungen Mann in Zukunft nicht in Ruhe lassen würde. Das sollte reichen. Sogar ein wütender Drogenboss ist in der Regel klug genug, sich nicht einen Profikiller dieses Kalibers zum Feind zu machen. Eigentlich schade, überlegte Alberta. Schließlich können auch alte Leute manchmal ein wenig Abwechslung ganz gut vertragen.