mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Mörderischer Retter

von Olaf Fritsche

„Entschuldigen Sie? Darf ich Sie kurz stören?“

Die Stimme war so leise, dass Jochen Voss sie beinahe überhört hätte. Gerade laut genug, um ihn aus seinem Gedankengang zu reißen. Verdammt! Er war so kurz davor. Es kribbelte ihm schon in den Fingerspitzen. Nur ein oder zwei Minuten noch, dann hätte er wieder einen seiner genialen Einfälle gehabt und tausend Zeilen Code zu einer eleganten kleinen Subroutine geschrumpft. Hätte. Wäre da nicht dieses Gesäusel gewesen.

„Was?“, fragte er.

Es klang nicht halb so knorrig wie beabsichtigt. Dabei hatte er das extra zu Hause vor dem Badezimmerspiegel geübt: böse gucken, genervt die Augen verdrehen, ungeduldig die Stirn in Falten legen. Kurz, alles, womit man unerwünschte Störungen im Ansatz abwürgen konnte. Leider erwies er sich schon vor dem Spiegel als wenig überzeugend. Mit einem zotteligen Vollbart, einer Haarpracht in den letzten Zügen eines verlorenen Rückzugsgefechts und einem Brillenmodell, das ausreichend veraltet war, um wiederholt aus der Mode zu geraten, war es nicht einfach, erkennbar eine strenge Miene aufzusetzen. Selbst wenn jemand einen ordentlichen Anpfiff verdient hatte. Wie diese Säuslerin.

„Was?“, probierte Jochen es ein zweites Mal. Bellender, im bedrohlichsten Ton, den sein Stimmapparat zustande brachte. Er schaute auf, wollte den Eindruck mit einem mörderischen Gesichtsausdruck unterstreichen. Und sabotierte damit sein eigenes Unterfangen. Trotz der Kürze des Wortes kam er nicht bis zum dritten Buchstaben. Seine Zunge blieb beim „a“ hängen, und sein Kiefer vergaß, den Mund zu schließen. Hätte er diese Mimik vor dem Spiegel geübt, wäre ihm der Begriff „Trottel“ durch den Kopf geschossen.

„Ich … Verzeihung! Ich wollte wirklich nicht … Vielleicht ist es besser, ich komme später wieder.“

Sie blinzelte hektisch und biss sich auf die Unterlippe. Ihre Hände zogen das Klemmbrett wie einen Schutzschild vor die Brust. Einen Moment blieb sie unschlüssig auf der Stelle stehen. Dann wandte sie sich zum Gehen, im gleichen Augenblick, als Jochen seine Sprache wiederfand.

„Nein! … Nein, ist schon gut! Blei… Bleiben Sie doch!“

Er klang gar nicht mehr abweisend. Eher verwirrt und überrumpelt. Überrumpelt von dem, was er sah und dem, was es in seinem Hormonhaushalt auslöste. Mein Gott, war das eine schöne Frau! Und sie hatte an seine Tür geklopft. Sie wollte wirklich und wahrhaftig etwas von ihm!

Jochen stieß sich das Knie, als er von seinem Stuhl aufsprang und um den Schreibtisch eilte. Egal! Ein Mann steckt jeden Schmerz weg, wenn es sein muss! Entschlossen packte er den klapprigen alten Besucherstuhl an der Lehne und kippte kurzerhand den Stapel Papiere, der sich darauf angesammelt hatte, zu Boden.

„Hier, nehmen … setzen Sie sich doch!“

Er lächelte. Bestimmt sah sein Lächeln verkniffen aus. Verdammt! Er hatte vor dem Spiegel die falschen Übungen gemacht. Aber wie sollte er ahnen, dass so ein Engel …? Egal! Nun war sie da. Was sie wohl wollte? Hauptsache, sie ging nicht sofort wieder!

„Aber ich möchste Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten.“ Der Engel lächelte zurück und schaute schnell zum Stuhl, als sich ihre Blicke begegneten. „Sie haben sicherlich wichtige Aufgaben zu erledigen.“

„Ach, was!“ Sein Lachen klang gekünstelt und zu laut. Wenn sie weg war, musste er unbedingt ‚Lachen üben‘ auf seine To-do-Liste setzen. Wieso stand das da nicht schon längst drauf? „Ich wollte sowieso gerade eine Pause einlegen.“

Auf dem Weg zu seinem eigenen Stuhl rutschte er beinahe auf dem Papierhaufen aus. Hat sie nicht gesehen, stellte er erleichtert fest. Sie hatte die Augen immer noch gesenkt. Er musste unbedingt ruhiger werden.

„Mein Name ist Andrea Jürgensen“, sagte sie. Mit der Linken schob sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während ihre Rechte weiterhin das Klemmbrett umklammerte, wenn auch nicht mehr ganz so fest. „Ich mache gerade ein Praktikum in der Personalabteilung.“

„Oh, HR?“ Unwillkürlich hob Jochen die Augenbrauen. Er war rund drei Jahrzehnten in der Firma, und seit er es vor zehn Jahren zum finalen Male abgelehnt hatte, sich die Karriereleiter hochstoßen zu lassen, hatte er nichts mehr mit den Personalern zu tun gehabt. Wenn er gewusst hätte, dass dort so attraktive Praktikantinnen …

„Ja, ich weiß, es ist nicht gerade der spannendste Job.“ Sie atmete einmal tief durch.

Ihr gefällt es nicht, dachte Jochen. Das konnte er gut verstehen. Die Arbeit dort musste grauenhaft langweilig sein.

„Aber wenn ich mich gut schlage, habe ich vielleicht Chancen auf eine feste Stelle.“

Ihr Lächeln schien um Verständnis zu bitten. Jochens Lächeln enthielt mehr als das. Es enthielt das Versprechen, dass er alles tun würde, was in seiner Macht stand, damit sie in der Firma blieb. Und damit sie so oft wie möglich bei ihm vorbeischaute.


Es hätte ganz schnell gehen können. Für Andrea, so durfte Jochen sie nennen, nachdem ihm mehrfach automatisch das „Du“ rausgerutscht war, gab es in der Personalabteilung nicht wirklich etwas zu tun, und so hatte sie sich selbst ein kleines Projekt ausgedacht, in dem sie Mitarbeiter interviewte, die trotz ihrer langen Firmenzugehörigkeit keine leitende Position einnahmen. Den Fragebogen hatten die beiden in einer knappen Viertelstunde durch, eine gute Stunde danach stellten sie fest, dass sie sich verquatscht hatten. Unter anderem hatte Jochen erfahren, dass Andrea zu jung in eine fürchterliche Ehe geschlittert war und nach ihrer Scheidung versuchte, auf eigenen Beinen zu stehen.

„Fünfzehn Jahre zu spät an der Startlinie des Lebens“, hatte sie ihre Situation zusammengefasst.

„Es ist nie zu spät“, hatte er geantwortet und sich sofort über die leere Floskel geärgert. Sie schien sich aber über die Aufmunterung zu freuen, und als sie sich verabschiedete, dauerte der Handschlag eine Spur länger an, als es zwischen Arbeitskollegen üblich war.

Zehn Minuten später bemerkte Jochen, dass er noch immer in seiner Bürotür stand und den Gang entlang sah, auf dem sie verschwunden war.


Das nächste Mal trafen sie sich auf dem Weg zur Kantine.

„Hi, Jochen!“

Sie tippte ihm von hinten an die Schulter.

„Andrea? Du? Aber die anderen aus der HR gehen doch da vorne. Ich meine … Schön dich zu sehen.“

Er blieb stehen. Sein Blick wanderte hin und her zwischen Andrea und dem Rest der Personalabteilung, die wie gewöhnlich um ihren Chef gescharrt das Kantinengebäude betrat.

„Ach, die!“ Andrea verzog den Mund und zuckte mit den Achseln. „Die nehmen mich nie mit zum Essen. Tun immer so, als würden sie die dumme Praktikantin leider vergessen.“

„Die tun was?“ Jochen riss die Augen weit auf und ballte tatsächlich eine Faust. Verwundert registrierte er, dass er entrüstet war. Eine Emotion, die er sonst gar nicht von sich kannte. Aber in diesem Fall hielt er das Gefühl für überaus angebracht.

„Lass nur! Ist mir egal. Ich habe sowieso keine große Lust, diese Visagen auch noch in den Pausen um mich zu haben.“

Andrea winkte ihren Kollegen abfällig hinterher, und ein fröhliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

„Wie wär’s? Wollen wir beide zusammen essen gehen? Ich meine, nicht in der Kantine. Woanders. Da ist ein Italiener an der Ecke, glaube ich.“

Sie strahlte Jochen an, während er damit beschäftigt war, das Gehörte zu verarbeiten, und nach einer sinnvollen Antwort zu suchen. Er war ebenfalls alleine unterwegs in die Kantine. Nicht, weil niemand mit ihm essen wollte, sondern weil er immer nur dann und genau dann losging, wenn es in seinen Arbeitsablauf passte. Gesellschaftliche Verpflichtungen standen also nicht dagegen, die Einladung anzunehmen. Seine Arbeit auch nicht. Überhaupt nichts. Und selbst wenn! Vor ihm wartete geduldig eine schöne Frau, die Hilfe brauchte, auf seine Antwort! Eine Frau, die ihn um Hilfe bat! Ihn! Niemand anderen!

„Wenn … wenn du meinst.“

Und ihr Strahlen wurde noch breiter, als sie sich bei ihm einhakte und ihn weg von der Kantine zog, hin zur Pizzeria.


Von nun an gingen die beiden jeden Tag gemeinsam mittagessen. Außer den Italiener entdeckten sie einen Libanesen, einen Thailänder und zwei Bäckereien, die kleine warme Speisen verkauften. Andrea erzählte eine Menge von sich, und Jochen hörte aufmerksam zu. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie interessant Menschen waren. Das heißt, wie interessant dieser Mensch war. Mehrmals erwischte er sich an den Nachmittagen dabei, wie er halbe Ewigkeiten vor seinem Computer saß und ins Nichts starrte, in Gedanken tief versunken in etwas, wovon Andrea ihm vertrauensvoll berichtet und was sie sonst niemandem jemals erzählt hatte.

Besonders erstaunt war Jochen darüber, dass sie sich offenbar auch für ihn interessierte. Sogar für seine Arbeit, die, wie er bei dieser Gelegenheit feststellte, praktisch sein ganzes Dasein ausmachte. Obwohl sie natürlich nicht die Feinheiten der Programmierung verstand, bewunderte sie anscheinend aufrichtig die Tricks und Kniffe, mit denen er schwierige Probleme löste und den Code effizienter gestaltete.

Gib es zu, alter Junge!, dachte Jochen, als er sah, dass er in eine Subroutine über mehrere Zeilen anstelle von Befehlen Andreas Namen getippt hatte. Du bist verliebt! Bis über beide Ohren. Wie ein Teenager. Und nur, weil Jochen ein Büro für sich alleine hatte, bemerkte niemand, wie er rot wurde.


Eine Woche später stürzte Jochen hastig seinen Orangensaft herunter und knallte das Glas auf die Theke.

„Noch einen!“

Der Barkeeper runzelte die Stirn und goss aus einem Tetrapack nach. Hätte es sich um ein alkoholisches Getränk gehandelt, hätte er ‚Meinen Sie nicht, dass Sie genug haben?‘ gefragt. Aber dass jemand versuchte, sich mit Orangensaft zu betrinken, war ihm neu. Also hielt er den Mund und öffnete nur vorsorglich den nächsten Tetrapack.

Um Jochen herum dröhnte die Weihnachtsfeier der Firma. Alles voll mit Lametta, lärmender Musik und fröhlichen Leuten. Er kippte den Saft auf ex in sich rein. Wenn Andrea ihn nicht gefragt hätte, ob sie zusammen hingehen wollten, wäre er gar nicht hier. Aber sie hatte ihn mit diesem Blick angesehen, gegen den er einfach kein Mittel wusste. Und außerdem dachte er, es wäre gut für sie, wenn sie ein paar wichtige Leute in der Firma kennenlernen würde. Schließlich wollte er, dass sie hier einen festen Job bekam. Deshalb hatte er sie Manfred vorgestellt, dem Vorstandsvorsitzenden, mit dem zusammen Jochen damals in der Firma angefangen hatte. Tja, und jetzt lernte sie Manfred ausgesprochen intensiv kennen.

Der Barkeeper füllte unaufgefordert nach, sodass Jochen ohne Unterbrechung zusehen konnte, wie sich Andrea offensichtlich reichlich beschwipst an Manfreds Krawatte festhielt, um nicht umzufallen, und dann sicherheitshalber ihre Arme um seinen Hals schlang. Die Schmetterlinge in Jochens Bauch rumorten wie übelgelaunte Käfer. Trotz des Lärmpegels hörte er Andreas klares Lachen, als Manfred eine witzige Bemerkung machte. Oder irgendeine Bemerkung, Andrea schien wohl alles zu gefallen, was er von sich gab. Jetzt drückte sie ihm sogar einen Kuss auf die Wange. Jochen schloss die Augen.

„Vollmachen!“, forderte er.

Vielleicht sollte er sich richtig die Kante geben, überlegte Jochen kurz. So wie Andrea rummachte, war überhaupt nicht mehr sicher, ob sie sich später von ihm nach Hause fahren ließe, wie es abgemacht war. Könnte gut sein, dass sie am Ende mit Manfred im Bett landete. Aber dafür spielte er bestimmt nicht den Chauffeur! Er stierte in den Orangensaft. Trotzdem! Wenn sie sich wie ein Flittchen benahm, hieß das noch lange nicht, dass er sein Wort brechen würde! Er hatte gesagt, er würde sie nach Hause bringen, und das tat er auch – vorausgesetzt, sie hatte in ein paar Stunden überhaupt noch Interesse an seinen Diensten.


„Sei doch kein Langweiler!“

Andrea griff sich am darauf folgenden späten Vormittag das Ende seines Schlipses und spielte damit. Jochen zog ihn aus ihren Händen und schaute demonstrativ über ihren Kopf hinweg. Sie machte einen Schmollmund.

„Manfred ist doch nett, und er ist der Boss, und ich habe mich nur ein bisschen amüsiert.“

„Ein bisschen amüsiert?“ Jochen schloss die Bürotür hinter ihr. Es brauchte nicht jeder mitzubekommen, was zwischen ihm und Andrea ablief. „Du hast dich ihm an den Hals geschmissen! Im wahrsten Sinne des Wortes!“

„Ja, schon. Aber er hat mir auch einen Drink nach dem anderen spendiert.“

„Die Getränke waren alle umsonst. Ist so bei Weihnachtsfeiern.“

Sie setzte eine betroffene Miene auf. Jochen bemühte sich, es zu übersehen, aber es reichten die Schemen im Augenwinkel, um seine Wut dahinschmelzen zu lassen.

„Bist du mir sehr böse?“

Jetzt blickte sie ihn auch noch so von unten an. Tapfer versuchte er, weiter eingeschnappt zu sein. Wenigstens ein paar Sekunden. Vergebens.

„Nein“, knickte er ein. Er hob die Hände, um sie an den Schultern zu fassen, besann sich aber im letzten Moment, dass sie noch nicht so weit waren, und fuhr sich stattdessen über den Kopf. „Nein, ist schon in Ordnung.“

Sofort lächelte sie wieder dieses Lächeln, das er so an ihr liebte. Mit einer Hand strich sie über seine Wange.

„Gehen wir dann los zum Essen?“, fragte er. „Ich habe einen neuen Inder entdeckt, der hat einen Mittagstisch.“

„Oh!“ Sie biss sich auf die Unterlippe und zog ihre Hand langsam zurück. „Das geht leider nicht.“

„Geht nicht?“ Jochen hatte seine Jacke greifen wollen, brach die Bewegung aber ab. „Wieso? Musst du jetzt doch mit der HR in die Kantine?“

„Nein, nicht mit der HR.“ Andrea druckste herum.

„Mit wem dann?“

Sag es nicht!, dachte er. Sag es bitte nicht!

Aber natürlich sagte sie es.

„Mit Manfred!“

Ohne ein weiteres Wort öffnete sie langsam die Bürotür und ging hinaus. Jochen hörte, wie ihre Schritte auf dem Flur immer leiser wurden, während sie sich entfernte.


In den kommenden Tagen gingen sie nicht gemeinsam essen. Sie sahen sich auch nicht nach Feierabend oder am folgenden Wochenende. Jochen sah Andrea überhaupt nicht mehr. Um nicht über das Geschehene nachzudenken und um sich vor seinen Gefühlen zu verstecken, stürzte er sich in die Arbeit. Er kam morgens als Erster und ging abends als Letzter. Wenn es im Gebäude so dunkel war wie in seinem Gemüt. Er musste Andrea vergessen. Sie aus seinem Leben tilgen. Als hätte es sie nie gegeben.

Und dann klopfte sie an seine Tür.

Es war ein ausgesprochen zaghaftes Klopfen. Nicht lauter als das Klappern von Jochens Tastatur. Bevor sich die Tür zögerlich öffnete, wusste Jochen, dass sie es war. Ohne sich zu rühren, starrte er sie an, wie sie sich langsam durch den schmalen Spalt schob, als habe sie Angst, dass er sie hinauswerfen würde, bevor sie überhaupt drin war. Ihre Wangen glänzten von Tränen, und ihr Make-up war verschmiert. Als sie die Tür hinter sich zuschob und sich gegen das Türblatt lehnte, entfuhr ihr ein Schluchzen. Eine Weile schüttelte es sie am ganzen Körper.

„Ich wusste nicht, wo ich sonst hin soll“, sagte sie schließlich.

Den Blick hielt sie auf den Boden vor sich gerichtet. Eine Träne erreichte ihre Nasenspitze und tropfte herab.

Jochen räusperte sich. Er hatte keine Ahnung, wie er mit solch einer Situation umgehen sollte, ihm war nur klar, dass er irgendetwas sagen oder tun musste.

„Was … was ist denn passiert?“

Andrea schniefte und tupfte sich die Augen mit einem Papiertaschentuch ab.

„Es ist Manfred“, presste sie hervor. „Er ist so ein Schwein!“

Bei der Erwähnung des Namens sprang Jochen auf.

„Was hat er gemacht? Hat er dir etwas angetan?“

Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie weinte, wirkte sie noch zierlicher und zerbrechlicher, dachte Jochen. Und er wusste, dass er sie beschützen musste. Vor allem und vor jedem. Und vor allem vor Manfred!

„Er hat nichts getan“, flüsterte Andrea hektisch. „Aber er hat es versucht. Hat mich zu sich gerufen, als alle anderen schon weg waren. Und dann hat er gesagt, die Luft wäre rein und wir könnten jetzt jede Menge Spaß miteinander haben. Gleich hier auf seinem Bürotisch. Ich wollte nicht, aber er hat mich bedrängt und gesagt, ich solle mir überlegen, wie viel mir ein Job in der Firma wert wäre. Und dass er dafür sorgen könnte, dass ich nirgendwo mehr eine Stelle kriegen würde, wenn ich mich blöd anstellte. Und dann …“ Sie hob den Kopf und sah Jochen, der langsam näher gekommen war, direkt in die Augen. „Dann bin ich rausgerannt. Weg von diesem Schwein. Und hierher. Ich wusste doch nicht wohin!“

Den letzten Satz rief sie laut aus und fiel schluchzend gegen Jochens Brust. Irritiert legte er einen Arm um sie und strich mit der anderen Hand beruhigend über ihren Kopf. Noch nie hatte eine Frau bei ihm Zuflucht gesucht. Und noch nie hatte er jemanden so abgrundtief gehasst wie Manfred. Eines der Gefühle alleine hätte ihn schon überfordert. Und jetzt hatte er es mit beiden zugleich zu tun.


Sie fuhren in ihre Wohnung und redeten die ganze Nacht. Jochen bestand mehrmals darauf, dass sie nie wieder in die Firma ginge, doch Andrea meinte, sie müsse an ihre Zukunft denken und das jetzt wenigstens bis zum Ende ihres Praktikums durchstehen. Auf Jochens Vorschlag, er würde sie auf der Stelle heiraten, damit sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, antwortete sie, indem sie seine Hand in ihre nahm und ihm dankte, dass es dafür aber ein wenig zu früh sei.

Als der Morgen langsam graute und sie die dritte Kanne Kaffee geleert hatten, waren sie nicht weiter gekommen als zu der Einsicht, dass Andrea die letzten zwei Wochen ihres Praktikums durchziehen und sich so weit wie möglich von Manfred fernhalten sollte.

Gemeinsam fuhren sie zur Firma. Kurz bevor sie aus dem Wagen stiegen, hielt Andrea ihn am Arm zurück. Sie gab ihm einen Kuss. Flüchtig zwar, aber dennoch ein richtiger Kuss.

„Danke!“, hauchte sie.

Dann tippelte sie davon, während Jochen ein, zwei Minuten brauchte, um sich zu sammeln.


Die nächsten Tage verliefen weitgehend nach diesem Plan. Andrea kam nach Feierabend in Jochens Büro und berichtete ihm, wie sie ständig damit beschäftigt war, Manfred und seinen triebgesteuerten Avancen auszuweichen. Jochen hörte es sich an und baute seinen ohnehin schon großen Groll auf Manfred weiter aus. Zum Mittag gingen sie nicht mehr auswärts essen, sondern begnügten sich mit belegten Brötchen, die sie in seinem Büro verspeisten.

„Ich mach ihn vor versammelter Mannschaft zur Sau!“, kündigte Jochen mehrmals an.

„Das tust du nicht“, erwiderte Andrea jedes Mal entschieden. „Dann weiß er sofort, warum du es tust, und ich fliege in hohem Bogen raus. Außerdem sind es nur noch ein paar Tage.“

Jochen schnaubte missgestimmt, aber er gehorchte. Größtenteils. Wenn er Manfred gelegentlich auf dem Flur begegnete, warf er ihm jedoch außer wütenden Blicke auch manch bissige Bemerkung an den Kopf, sodass sich einige der Kollegen fragten, woher das böse Blut zwischen den beiden ehemaligen Freunden rührte. Aber noch explodierte das Pulverfass nicht. Doch dann kam der vorletzte Abend von Andreas Praktikum.


Die letzten Kollegen waren gegangen, die Flure lagen im Dunkeln. Jochen speicherte und fuhr den Rechner herunter. Gleich würde Andrea bei ihm auftauchen, und er würde sie wie jeden Abend nach Hause fahren. Heute noch. Und morgen. Danach war ihr Praktikum vorbei. Und was dann? Die Idee mit dem Job in der Firma hatten sie gestrichen. Unter solch einem Lustmolch wie Manfred konnte keine anständige Frau arbeiten. Aber was sonst? Wie sollte es mit ihnen weitergehen? Würde es überhaupt weitergehen? Oder würde Andrea so plötzlich aus seinem Leben verschwinden, wie sie darin aufgetaucht war?

Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Gedankengänge. Gewohnheitsmäßig schaute Jochen auf das Display. Eine unterdrückte Nummer. Wahrscheinlich so ein illegaler Werbeanruf. Genervt nahm er den Hörer ab.

„Ja?“

„Jochen, ich bin’s!“ Andreas Stimme würde er unter Tausenden erkennen. Ebenso wie er hörte, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Was ist …“

„Jochen, ich kann nicht lange reden“, unterbrach sie ihn. Sie sprach schnell, überschlug sich dabei und verschluckte Silben. „Er ist gleich wieder da.“

„Wer? Wer ist gleich wieder da? Wo bist du?“

„Manfred! Ich bin in Manfreds Büro. Er hat mich eingeschlossen. Mein Gott, Jochen, er ist über mich hergefallen. Er hat mich … hat mich …“

Sie schluchzte. Jochen sprang auf, hastete mit großen Schritten zur Tür, bis das Telefonkabel straff gespannt war.

„Ich komme!“

„Nein! Nicht! Komm’ nicht!“ Andrea klang noch panischer als bisher. „Er ist sofort wieder zurück. Er will nur irgendwas holen. Ich hab’ keine Ahnung, was, aber er ist jeden Moment wieder da.“

„Ich hol’ dich da raus!“

„Jochen! Halt!“ Andrea schrie jetzt so laut, dass er den Hörer auf Armlänge von seinem Ohr hielt. „Bleib weg! Er hat … Manfred hat eine Pistole! In seinem Schreibtisch. Er hat mich damit bedroht. Wenn du kommst, bringt er dich um!“

Es folgten ein Knall wie vom Zuschlagen einer Tür und ein erschreckter Ruf von Andrea, dann war die Verbindung unterbrochen.


Dass er losgelaufen war, merkte Jochen erst, als er die Tür zu Manfreds Büro aufriss.

„Jochen, wie schön, dass …“, begann Manfred.

Weiter kam er nicht, weil Jochen sich auf ihn stürzte und mit beiden Händen würgte.

„Du Schwein!“, brüllte er. „Du dreckiges Schwein! Ich mach dich kalt!“

Von Jochens Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht kippte Manfreds Stuhl nach hinten über und zog beide Männer mit sich. Jochen stieß mit dem Kopf an den Heizkörper. Manfred nutzte seine leichte Benommenheit, um sich loszureißen. Auf allen vieren krabbelte er davon, doch bevor er außer Reichweite war, ergriff Jochen eines seiner Hosenbeine und zerrte ihn zurück.

„Du bist wahnsinnig!“, brüllte Manfred in Todesangst. Er klammerte sich an ein Bein seines Schreibtischs.

„Ich mach dich alle! Ich mach dich alle!“, wiederholte Jochen und biss Manfred in die Wade.

Manfred schrie vor Schmerzen auf. Mit dem freien Fuß trat er nach Jochens Kopf. Beim dritten Versuch traf er ihn so hart, dass Jochen losließ. Manfred zog sich am Schreibtisch hoch und torkelte in Richtung offenstehender Tür. Er streckte schon die Hand nach dem Türrahmen aus, da traf ihn ein gewaltiger Schlag im Rücken und ein Knall zerfetzte ihm fast die Trommelfelle. Er knickte in den Knien ein, bevor er wie ein gefällter Baum vornüber kippte. Hinter ihm hockte Jochen am Schreibtisch neben der aufgezogenen Schublade. In der Hand hielt er eine Pistole.


Jochen leistete keinen Widerstand, als die Polizisten ihn in Handschellen abführten. Im Verhör legte er ein umfassendes Geständnis ab. Auf der Tatwaffe fanden sich nur seine Fingerabdrücke, er hatte deutliche Schmauchspuren an den Händen und im Gesicht, und seine Kollegen sagten übereinstimmend aus, dass es in letzter Zeit ziemliche Spannungen zwischen ihm und Manfred gegeben hatte. Der Fall war so klar, dass er beinahe schon langweilig war.

Lediglich die Sache mit der Praktikantin, der Jochen zu Hilfe geeilt sein wollte, passte nicht ins Bild. Außer ihm kannte in der Firma keine Menschenseele eine Andrea Jürgensen, und die Personalabteilung beschäftigte schon seit Jahren keine Praktikantinnen mehr. Beim Einwohnermeldeamt war niemand mit dem fraglichen Namen registriert, und unter der Adresse, die Jochen für ihre Wohnung angab, lebte ein wissenschaftlicher Assistent der Universität, der zurzeit einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt in Tibet verbrachte. Insgesamt, so folgerte die Ermittlungskommission, war am wahrscheinlichsten, dass Jochen sich die Geschichte mit der Bedrohung dieser Unbekannten nur ausgedacht hatte, um auf mildernde Umstände zu plädieren. Alles andere klang eher nach der abgedrehten Fantasie eines Krimiautoren.

Fest stand: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde Jochen wegen Mordes verurteilt werden. Ob mit Phantom-Praktikantin oder ohne.


Es war neblig und unangenehm kühl, als Carmen die Mitte der Brücke erreichte und sich an das Geländer lehnte. Weiter unten zog der Fluss träge und unaufhaltsam vorbei. Außer ihr war so früh am Morgen niemand unterwegs, selbst die Straßenreinigung würde erst in einer halben Stunde auftauchen, hatte sie recherchiert. Es bestand kein Grund zur Eile.

nahm sich die Zeit, ihre Lungen tief mit der Morgenluft zu füllen. Dann stellte sie ihre Handtasche auf das Geländer und öffnete sie. Zuerst entnahm sie eine laminierte Ausweiskarte mit Clip. Ausgestellt auf den Namen Andrea Jürgensen und mit ihrem Foto versehen. Firmenausweise waren fast schon lächerlich einfach zu fälschen. Mit einer Schere zerschnitt sie das Dokument und ließ die Schnipsel in den Fluss gleiten. Mit ihnen verschwand der einzige Beweis, dass jemals eine Andrea Jürgensen in der Firma ein und aus gegangen war. Keiner würde sich an sie erinnern, da sie dort praktisch mit niemandem außer Jochen Kontakt aufgenommen hatte. Zumindest mit niemandem, der noch am Leben war.

Sie kramte ein Röhrchen mit Pillen aus der Handtasche und entleerte es ins Wasser. Vermutlich würde sich das Mittel schnell verteilen, sodass keiner der Fische ähnliche Verdauungsbeschwerden bekommen würde wie die anderen Damen, die auf der Weihnachtsfeier versucht hatten, sich an Manfred heranzuschmeißen. Carmen verzog kurz das Gesicht. Es war noch nie eine gute Idee gewesen, zwischen ihr und ihrer Zielperson zu stehen. Wenn man bedachte, welche Möglichkeiten ihr außerdem zur Verfügung standen, durften sich die Tussen glücklich schätzen, mit einem Abführmittel im Glas davongekommen zu sein.

Diesen Obernerd Jochen hatte es schlimmer erwischt. Ohne Reue dachte Carmen daran, mit welcher Leichtigkeit sie ihn manipuliert hatte. Bereitwillig hatte er jede Geschichte geschluckt, die sie ihm über sich und Manfred erzählt hatte. Bei dem Gedanken schüttelte sie den Kopf. Als ob sie so ein Eselsgesicht an sich heranlassen würde. Das eine Mal auf der Feier hatte gereicht. Mehr Manfred brauchte kein Mensch, und mehr Manfred war nicht nötig gewesen, um Jochen in Gang zu setzen. Schon knallte er in einer Mischung aus Eifersucht und Heldentum seinen Chef ab. Wenn das nicht der perfekte Mord war: Einfach einen geeigneten Trottel als Handlanger die Schmutzarbeit erledigen lassen. Carmen musste lediglich die Waffe besorgen und in Manfreds Schublade schmuggeln. Da hatte sie schon zu Schulzeiten schwierigere Aufgaben gemeistert.

Sie nahm das Prepaid-Handy aus der Tasche. Das Teil, mit dem sie Jochen um Hilfe gerufen hatte. Waren schon praktisch diese Dinger. Und so billig. Da war es nicht weiter bedauerlich, dass es gleich ebenfalls im Fluss verschwinden musste. Nur noch ein letzter Anruf. Aus dem Kopf tippte sie eine Nummer ein.

„Ja?“, meldete sich eine Stimme, ohne ihren Namen zu nennen.

„Auftrag ausgeführt“, sagte Carmen. „Die Firma ist reif für die feindliche Übernahme. Jetzt ist es an Ihnen, unsere Vereinbarung einzuhalten.“

„Ist bereits geschehen.“

Es klickte. Mit einem Lächeln ließ Carmen das Handy ins Wasser fallen.

Einen Moment hörte sie den Wellen zu. Dann klappte sie den Kragen ihres Mantels hoch und schlenderte weiter über die Brücke. Wenige Sekunden später war sie im Nebel verschwunden.