mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Lebe heftig, stirb plötzlich!

von Olaf Fritsche

"Titten, Harald! Ich brauche mehr Titten!"

Wilhelm Kotzlowski - alias King I, König der Comedians von eigenen Gnaden - stieß seinem Gagautor den Zeigefinger gegen die Brust.

"Wir müssen den Leuten geben, was sie hören wollen, um an der Spitze zu bleiben. Verstehst du das?"

Er schob den Finger hinter die Knopfleiste von Harald Aschbachs Hemd und zog ihn auf Sprechsprühnebeldichte an sich heran.

"Und die Leute wollen Witze mit Titten!"

"Und wo wir schon beim Thema sind: Du könntest deine Bluse ruhig auch einmal ein bisschen weiter auf lassen", rief er, ohne den Blick von Aschbach abzuwenden, seiner Assistentin Amelie nach, die sich in diesem Moment an den beiden vorbei in Richtung Garderobe schob.

"Kauf dir 'ne Nutte, wenn du das haben willst", konterte sie und streckte im Weitergehen ihren Mittelfinger in die Höhe.

"Dämliche Schlampe!", zischte Kotzlowski.

Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck stieß er Aschbach von sich.

"Ich sollte auf der Stelle alle rausschmeißen. Dich und diese arrogante Tusse. Und euch andere gleich mit!"

Er drehte sich um die eigene Achse auf der Suche nach einem neugierigen Blick und einem weiteren Opfer. Doch er fand niemanden, der sich für seinen Ausbruch interessierte. Nicht für das Schauspiel, das er nach jedem Auftritt abzog. Also brüllte Kotzlowski seine Nachricht einfach so in den Raum hinein.

"Feuern sollte ich euch dämliches Pack! Aber das mache ich nicht. Und wisst ihr wieso?“

Erneut sah er sich aufmerksamkeitsheischend um. Erneut fand er keine Beachtung. Selbst Aschbach zog lediglich genervt sein Hemd zurecht.

"Weil ich zu gutmütig bin! Weil ich es nicht übers Herz bringe, euch verhungern zu lassen. So ist das!"

Er drehte zwei weitere Pirouetten in der vergeblichen Hoffnung auf Publikum, dann winkte er ab.

"Scheiß drauf! Ich gehe jetzt dahin, wo man in Ruhe die Sau rauslassen kann.“

Er schlurfte zum Ausgang.

"Und da hole ich mir Titten! Jede Menge Titten!"


Harald Aschbach sah ihm nicht nach. Er fingerte in der Hosentasche nach dem Röhrchen mit seinen Pillen. Er war diese Auftritte längst gewohnt. Seit acht Jahren schrieb er für King I Gags. Zuerst als Teil eines Teams, doch weil seine Sprüche mit Abstand am besten ankamen, ja, weil seine Texte King I erst nach oben gebracht hatten, wurde er schließlich dessen einziger Autor. Und damit dessen bevorzugte Zielscheibe für die Abstiegsängste, die den kleinen Kotzlowski in King I bei jedem Gang auf die Bühne begleiteten.

Aschbach wusste, dass Kotzlowski es überhaupt nur vor das Publikum schaffte, wenn er sich mit Aufputschmitteln vollschmiss. Dann lief er zu Höchstform auf und rockte den Saal. Tausend, zehntausend, zwanzigtausend Fans hingen an seinen Lippen, wenn er die Gags abspulte, die Aschbach ihm geschrieben hatte. Ohne das war er gar nichts. Zu blöd, die richtigen Worte für einen Einkaufszettel zu finden. Kotzlowski wusste das, Aschbach wusste das. Und Aschbach wusste, dass Kotzlowski es wusste, was wiederum Kotzlowski wusste – und was ihm noch mehr Angst machte. Diese Abhängigkeit von dem stillen, aber so verdammt klugen Aschbach. Darum schiss er ihn zusammen, wenn er von der Bühne kam und voller Adrenalin vom Auftritt und den Aufputschmitteln war. So lief das jedes Mal.

Endlich hatte Aschbach sein Pillenröhrchen hervorgekramt. Dieser ganze psychologische Kram, warum Kotzlowski sich so benahm, wie er hieß, nützte Aschbach herzlich wenig, denn der ständige Stress schlug ihm mächtig aufs Herz. Auch jetzt wummerte es so heftig, dass er meinte, man müsste es von außen durch das Hemd hindurch schlagen sehen. Er schluckte hastig vier der Pillen herunter. Starkes Zeug, der Arzt hatte ihm nicht mehr als drei am Tag erlaubt, aber damit kam Aschbach nicht aus. Nicht, wenn Kotzlowski seine Aftershow-Anfälle hatte.

Gott, wie hasste er diesen Hampelmann! Am liebsten würde er ihm einmal ordentlich die Meinung sagen und bei einem anderen Comedian anheuern. Doch das hätte gegen den Ehrencodex der Branche verstoßen, wonach sich Comedians nicht gegenseitig die Gagschreiber wegschnappen. Deshalb hing er auf Gedeih und Verderb bei Kotzlowski fest. Wohl eher "auf Verderb", wenn es nach seinem Herzen ging.

So war das eben: Der eine putschte sich ständig auf, der andere kämpfte darum, Ruhe in den Körper zu bringen. Bis ans Lebensende in der Hölle, dachte Aschbach und betrachtete sein Pillenröhrchen. Es sah ziemlich genauso aus wie die Röhrchen mit Kotzlowskis Zeug. Mehr als einmal hatte Aschbach schon das verkehrte Mittel in der Hand gehabt, was kein Wunder war, da King I seinen Kram überall herumliegen ließ. Bis ans Lebensende … Aber wo stand geschrieben, dass es sein Lebensende sein müsste, überlegte Aschbach.


Halb hinter einer Säule verborgen beobachtete Amelie, wie Aschbach das Pillendöschen in seiner Hand fixierte.

Ob er denkt, was ich denke?, fragte sie sich.

Sie könnte es ihm nicht verübeln. Alle in Kotzlowskis Gefolge hassten ihren Chef, aber Aschbach hatte am meisten unter ihm zu leiden. Obwohl … am meisten? Eher nicht. Am häufigsten, am regelmäßigsten – das schon. Aber Kotzlowski hatte Aschbach niemals angetan, was er ihr angetan hatte. Damals, als sie neu in der Show war. Neu und naiv. So naiv, dass sie meinte, sowas würde dazu gehören. Sich einredete, das wäre eben der Eintrittspreis ins Rampenlicht. Und weil sie damals glaubte, King I wäre auf irgendeine Weise etwas Besonderes.

Amelie schnaubte bei dem Gedanken missmutig. Das einzig Besondere an King I waren seine Blödheit, seine Selbstverliebtheit und dass er sie allesamt auf die ein oder andere Weise in der Hand hielt. Wie hatte sie nur so dumm sein können, und sich ungeschützt von ihm bumsen lassen. War doch von vornherein klar, dass er von einem Kind nichts wissen wollte. Aber so klug war sie blöderweise erst nach der Abtreibung. Was wäre ihr alles erspart geblieben, wenn sie es schon früher kapiert hätte. Die Alkoholsucht. Die Therapie. Die zusätzliche Erniedrigung, sich von diesem Drecksack das Geld leihen zu müssen, um während jener Zeit über die Runden zu kommen.

Sie sah, wie Aschbach sich zwei weitere Pillen einwarf und das Döschen dann zurück in die Hosentasche steckte. Er ließ seine Medikamente nicht offen herumliegen, wie es Kotzlowski tat. Doch das war gar nicht nötig. Jeder wusste, dass Aschbach stets einen gehörigen Vorrat in seiner Jacke dabei hatte, um nicht unvermittelt ohne dazustehen. Und die Jacke hängte er immer ordentlich an die Garderobe, wenn sie an einem Veranstaltungsort eintrafen. Es wäre ein Leichtes, sich unbemerkt dort hinzuschleichen und einen kleinen Austausch zu arrangieren. Noch konnte sie den Absprung in eine andere Show schaffen. Noch hatte sie einen Körper, der ihr die Aufmerksamkeit der entscheidenden Männer garantieren würde. Aber noch sah man in ihr nur die rassige Assistentin des genialen Comedians. Die Branche dachte nun mal in Klischees. Und solange Kotzlowski den King I gab, blieb ihr darum nicht mehr als die Rolle des stummen Nummerngirls.

Wenn King I jedoch eines Tages von der Bühne verschwinden sollte, … Diskret zog Amelie sich zurück, bevor Aschbach sich auf den Weg zur Garderobe machte. Es wurde Zeit, dass sich etwas Grundlegendes ändert, dachte sie.


Henry Dillinger steckte der Stripperin einen 50-Euro-Schein hinter das Bändchen ihres Tangas.

„Nicht so geizig, Mann! Wir haben die Kohle, und die Kleine hat mächtige …“

Das letzte Wort ersetzte ein sichtlich gut gelaunter und ebenso gut alkoholisierter King I durch ein eher misslungenes verschwörerisches Zwinkern mit dem linken Auge. Die Stripperin bedachte ihn dennoch mit einem Lächeln, während Dillinger nachschob und seinem Star anschließend mit Kennermiene den hochgereckten Daumen zeigte.

Dass er schwul war und ihm das ganze Theater hier mächtig auf den Geist ging, brauchte Kotzlowski nicht zu wissen. Nicht, dass es etwas ausmachen würde. Im Showgeschäft waren viele Leute offen oder versteckt homosexuell, doch das hatte seit Ewigkeiten kaum einer Karriere geschadet. Vor allem aber war diese Information harmlos im Vergleich zu dem, was Kotzlowski sonst noch über ihn wusste.

Dillinger winkte eine Bedienung im Bunnykostüm heran und orderte eine weitere Flasche Schampus. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Kotzlowski nach den Auftritten möglichst schnell abzufüllen und zurück ins Hotel zu befördern. Champagner hatte sich am effektivsten darin gezeigt, die Wirkung des Aufputschmittels in Kotzlowskis Blutbahn zu neutralisieren. Dillinger selbst blieb bei Ginger Ale. Er rührte keinen Tropfen Alkohol an. Nicht seit diesem Unfall.

Er wusste, dass er später, wenn er vergeblich versuchte einzuschlafen, wieder die junge Frau sehen würde. Wie sie aus dem Nichts vor dem Auto auftauchte. Wie sie auf die Kühlerhaube geschleudert wurde. Wie sie ihm einen Moment, einen entsetzlichen Moment lang, direkt ins Gesicht blickte. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen. Wie sie dann seitwärts herunterrutschte. Wie sie zusammengekrümmt am Straßenrand lag. Wie sie sich nicht mehr rührte. Als er Gas gab. Als er voller Panik in Schlangenlinien nur daran dachte, von dort wegzukommen. Als Kotzlowski vom Beifahrersitz lallte:

„Mann, die hast du aber gepflegt flachgelegt.“

Sie war nur 23 Jahre alt geworden, wie Kotzlowski ihm am nächsten Morgen aus der Zeitung vorlas.

„Weißt du, was du bist?“, hatte er Dillinger gefragt und im selben Atemzug die Antwort nachgeschoben.

„Ein Killer bist du! Ein dreckiger Killer! Und wenn du nicht willst, dass ich den Bullen einen Tipp gebe, gehört dein Arsch ab sofort mir.“

Ausgerechnet dieser Satz von Kotzlowski erwies sich als unerbittliche Wahrheit. Nicht, dass er Dillinger schlecht bezahlen würde, sein Honorar war selbst für den Agenten eines Superstars, wie King I es trotz seines beschränkten Intellekts unbestreitbar war, durchaus fürstlich. Doch dafür musste er mehr noch als früher hinter Kotzlowski aufräumen. Musste ihn als einziger aus dem Team auf seine After-Show-Privatpartys begleiten. Die Nutten bezahlen und deren Zuhältern Entschädigungen zukommen lassen, wenn Kotzlowski mal wieder ein rot geplüschtes Bett vollgepisst hatte. Und auch die schwierigeren Fälle musste er möglichst ohne Aufsehen regeln. So wie Amelies Abtreibung, weil der Wichser seinen Lümmel nicht unter Kontrolle halten konnte.

Im Grunde hatte Dillinger aufgehört zu existieren. Sein Leben war kaum mehr als ein schlapper Witz. Der Schatten des verkorksten Lebens eines unwürdigen Kretins. Eigentlich sollte er sich einen Strick nehmen, dachte Dillinger zum wiederholten Male.

Gehorsam prostete er Kotzlowski zu, der den Champagner direkt aus der Flasche trank und sich nicht darum scherte, dass ihm mehr als die Hälfte über das Kinn rann und auf die Beine der Bedienung tropfte, die er auf seinen Schoß gezogen hatte.

Irgendwie hing Dillinger aber trotz allem an seinem Leben. Und er sah nicht ein, warum er dran glauben sollte, wenn es da eine andere Lösung gab. Hantierte nicht dieser Aschbach ständig mit solchen Tabletten herum, die aufs Haar aussahen wie Kotzlowskis Dröhnungen? Da sollte sich doch etwas arrangieren lassen. Ein Leben hatte Dillinger sowieso schon auf dem Gewissen, das der jungen Frau von dem Unfall. Im Vergleich dazu würde es kaum ins Gewicht fallen, wenn er dem Schicksal bei Kotzlowski ein wenig unter die Arme greifen sollte.

Er trank einen Schluck Ginger Ale. Auf einmal schmeckte die Ingwerbrause viel süßer als sonst.


Die kommenden zwei Wochen verliefen im gewohnten Trott. King I füllte Aulen, Konzertsäle und Turnhallen. Nebenbei eröffnete er medienwirksam einen Kindergarten.

„Du hättest die Titten dieser Krippenmutti sehen sollen, Harald! Hab sie gleich für die Nacht auf mein Hotelzimmer eingeladen. War also nicht ganz umsonst, sich mit den Rotzbalgen herumzuschlagen. Schreib doch mal einen Gag über Kindergärtnerinnen.“

Mehrmals rief er Amelie Anzüglichkeiten nach und fing sich eine schallende Ohrfeige ein, als er ihr an den Po griff. Dillinger übergab sich im Rahmen einer besonders ausschweifenden Kotzlowski’schen Aftershow, die zur Orgie ausartete und in deren Verlauf King I "aus Spaß", wie er es nannte, die Etiketten der Flaschen vertauschte, sodass Dillinger versehentlich einen großen Schluck Wodka in sich hineinkippte. Kurz gesagt, es war die ganz gewöhnliche Hölle. Wer konnte, ging Kotzlowski aus dem Weg. Aschbach, Amelie und Dillinger konnten nicht.


Dann kam der große Tag. Der krönende Abschluss der Saison und Höhepunkt in der bisherigen Karriere von King I. Dillinger hatte all seine Verbindungen spielen lassen und einen Auftritt in einem Fußballstadion arrangiert. Live vor 80.000 Zuschauern, live im Fernsehen zur besten Sendezeit, live gestreamt auf jeder Plattform, die es sich leisten konnte. Aschbach hatte sich speziell für diese Show einige neue Gags ausgedacht. Subtile Anspielungen in Maßen, derben Humor in Mengen und sogar zwei, drei Witze mit Titten hatte er eingebaut.

Amelie verbrachte doppelt so viel Zeit in ihrer Garderobe wie vor einem gewöhnlichen Auftritt. Anstelle der üblichen zwei Visagisten, Stylisten und Glamouristen beschäftigte sie derer gleich fünf, und sie trug ein paillettenbesetztes Kleid mit einem Ausschnitt, wie King I ihn am liebsten immer bei ihr sehen würde.

King I stand der Sinn aber gar nicht nach anzüglichen Blicken oder einschlägigen Bemerkungen. Die Vorstellung, vor so viele Menschen zu treten, versetzte ihn seit dem frühen Morgen in Panik. Statt zu frühstücken, hing er über der Kloschüssel. Zum Mittag nahm er lediglich eine Suppe zu sich, die er ebenfalls gleich wieder erbrach. Einzig die Aufputschpillen, die er den ganzen Tag in Mengen schluckte, behielt er bei sich. Mehrmals schickte er Boten des Hotels zu immer entfernteren Apotheken, um Nachschub zu besorgen.

Endlich, gegen Abend, stellte sich die erhoffte Wirkung ein. Der vom Grauen geschüttelte Kotzlowski gewann seine Selbstsicherheit zurück und verwandelte sich in den überdrehten King I, nach dem das Publikum verlangte. Pünktlich mit einer halben Stunde Verspätung traten er und Amelie auf die Bühne im Zentrum des Spielfelds. Vom grellen Licht der Scheinwerfer geblendet vermochten sie die Leute nicht zu sehen, doch sie hörten sie. Den Jubel, den Applaus, das Kreischen, die Rufe der Fans. King I reckte siegesgewiss die Arme in die Höhe. Er war in seinem Element. Dies war sein Leben.

Sein Leben sollte noch genau 24 Minuten und 19 Sekunden andauern. Dann stockte King I mitten in einem Gag, griff sich mit der rechten Hand an die Brust und raunte mit verzerrter, kaum verständlicher Stimme „Tidd’n“, während er versuchte, sich mit der linken Hand am Mikrofonständer festzuhalten. Unter dem Gejauchze des Publikums, das dies für einen Teil des Witzes hielt, sackte er auf der Stelle zusammen.

Amelie war als Erste bei ihm. Die Videoleinwände im Stadion, die Fernsehbildschirme in den Wohnzimmern, die Displays der Handys zeigten, wie sie sich über ihn beugte, seine Stirn befühlte und am Hals nach einem Puls tastete, bevor sie energisch die Sanitäter herbeiwinkte. Allmählich wurden die Zuschauer gewahr, dass sie Zeugen eines Dramas waren, und Stille breitete sich im Stadion aus. Fassungslos sahen sie mit an, wie ein Notarzt den reglosen Kotzlowski wieder und wieder mit dem Defibrillator schockte, wie ein Sanitäter einen Zugang legte und einen Tropf anschloss, wie der Sicherheitsdienst eine Gasse für den einfahrenden Rettungswagen freiräumte.

Niemand bemerkte den kurzen Anflug eines Lächelns, das sich nach dem ersten Schock über die Gesichter von Aschbach, Amelie und Dillinger schlich. Und niemand dachte daran, die Liveübertragung abzubrechen, als der gefeierte König der Comedians, King I, als nunmehr unwiderruflich toter Wilhelm Kotzlowski mit Blaulicht zum nächstgelegenen Krankenhaus transportiert wurde.


Ein Jahr später besprach Harald Aschbach mit seinem Hauptdarsteller, wie er sich die Szene im neuen Stück vorstellte. Auf einem Stuhl in der Ecke döste der Wärter vor sich hin. Aschbach bereitete niemals Schwierigkeiten. Ebenso wenig die Gruppe von Häftlingen, die er in der kurzen Zeit, die er bislang einsaß, zu einem recht passablen Theaterensemble geformt hatte.

Lediglich ganz zu Anfang hatte Aschbach mit seinem Schicksal gehadert. Die Ermittlungen im Mordfall Kotzlowski hatten eindeutig gegen ihn gesprochen. Da war das Herzmedikament, an dem King I gestorben war, weil er sich eine Überdosis eingeworfen hatte, die einen Elefantenbullen umgebracht hätte. Es war die gleiche Substanz, die Aschbach besaß und einnahm. Außerdem hatten zahlreiche Zeugen von dem extrem angespannten Verhältnis der beiden zueinander berichtet. Trotzdem hatte Aschbach während des Prozesses und darüber hinaus stets seine Unschuld beteuert. Vergebens. Am Ende wurde Harald Aschbach des Mordes an seinem Chef Wilhelm Kotzlowski schuldig gesprochen.

Wider Erwarten blühte er im Gefängnis auf. Die Gemeinheiten und Sticheleien der bösartigen Häftlinge machten ihm nichts aus, da war er von Kotzlowski Schlimmeres gewohnt. Im Gegenteil! Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich frei. Frei zu schreiben, was er wollte. Frei von den Weisungen eines stupiden Proleten ohne jeden Sinn für Sprache und sorgsam erdachte Dramaturgie. Er verfasste tiefsinnige Komödien und anrührende Tragödien, lernte einen bekannten Schauspieler kennen, der seine Strafe wegen dilettantischer Steuerhinterziehung absaß, und über diesen eine ganze Reihe begabter Amateure. Er verhandelte mit der Anstaltsleitung und bekam die Genehmigung, eine Theater-AG mit allem drum und dran zu gründen. Die gefängniseigene Werkstatt stellte die Kulissen her, Kostüme lieferte eine Frauenhaftanstalt im Tausch gegen einen Gastauftritt.

Die Aufführung wurde ein voller Erfolg und machte Aschbach zum Star unter den Insassen und dem Wachpersonal. Schon gingen erste Anfrage von anderen Anstalten ein, und gemeinsam mit dem Direktor, der es sich nicht nehmen ließ, sich im Abglanz von Aschbachs Ruhm zu sonnen, plante er eine kleine Tournee durch die Gefängnisse des Landes.

Wenn man Aschbach auf den Mord an Kotzlowski ansprach, beharrte er zwar weiterhin auf seiner Unschuld. Aber trotzdem untersagte er seinem Verteidiger, eine Haftverkürzung wegen guter Führung zu beantragen. Er hatte endlich sein Glück gefunden, und er wollte es ganz in Ruhe genießen.


Auch Amelie ging es gut. Sie hatte praktisch nie unter Verdacht gestanden, Kotzlowski ermordet zu haben, zumal niemand wusste, wie sehr und aus welchen Gründen sie den Schmieren-Komödianten, wie sie ihn immer noch bei sich nannte, gehasst hatte.

Als Vorzeigepüppchen hatte sie nach dem besagten Abend nicht mehr arbeiten wollen und darum manch harten Monat durchgemacht. Bis sie am Rande einer King I-Gedächtnis-Sendung im Fernsehen, an der sie wegen des gebotenen Honorars teilnahm, mit Henry Dillinger ins Gespräch kam. Der ehemalige Manager reaktivierte einige seiner alten Kontakte, und eine Woche später hatte Amelie ein Vorstellungsgespräch, bei dem sie beweisen durfte, dass in ihrem hübschen Köpfchen auch ein heller Geist wohnte. Noch im Laufe des Job-Interviews bekam Amelie die Stelle in der Redaktion einer Casting-Show, wo sie nun ihrerseits als „Frau Berger“ umsetzen konnte, wie sie sich die Suche und Förderung junger Talente vorstellte.


Henry Dillinger hatte dem Showbiz hingegen den Rücken gekehrt und die Leitung einer Kindergartenkette übernommen. Dank seines dicken Bankkontos aus der Zeit mit King I machte ihm die miese Bezahlung nichts aus, und er schlug sich allemal lieber mit den Beschwerden aufgebrachter Helikoptereltern herum, als weiter die Eskapaden eines abgedrehten Erpressers zu erdulden.

Eine Weile nahm er wegen der vielen Mauscheleien, die er für Kotzlowski abgezogen hatte, auf der Liste der Mordverdächtigen den Spitzenplatz ein. Letztlich wurde er aber nicht angeklagt, weil er am Todestag von King I buchstäblich jede einzelne Sekunde in Meetings oder Telefonkonferenzen gesteckt hatte, um den Auftritt und die Übertragungen sicherzustellen. Das bezeugten jedenfalls Dutzende seiner mehr oder weniger halbseidenen Gesprächspartner.

Und so genoss Dillinger seine Aufgaben im Kinderparadies Regenbogen als wohlverdienten Ruhestand.


Folglich gab es keinen Grund, warum jemand eingehender die wirklichen Ereignisse untersuchen sollte, die zum öffentlichen Ableben von Wilhelm Kotzlowski geführt hatten.

Es befragte niemand die Garderobiere, die an dem Abend für die Kleidung des King I-Teams zuständig war und auf dem Boden ein Pillenröhrchen gefunden hatte, das aus einem der Mäntel gefallen sein musste. Und es interessierte sich auch keiner für den Laufburschen, dem sie die Tabletten übergab, damit er den Besitzer ausfindig machte und sie diesem aushändigte.

Während sich der Junge bei den Bühnenarbeiter, Beleuchtern und Kabelträgern durchfragte, griff mit einmal eine Hand zielstrebig an seinem Kopf vorbei nach dem Röhrchen. Als er sich umdrehte, sah der Laufbursche, wie sich King I höchstpersönlich den Behälter in die Hosentasche steckte und ihm dankend auf die Schulter klopfte, sodass er sich traute, ihn nach einem Autogramm zu fragen. Mit gönnerhafter Miene kritzelte der König der Comedians seinen Namenszug auf den Mitarbeiterausweis des Burschen und wandte sich zum Gehen.

Wie aus einer plötzlichen Eingebung heraus blieb er aber noch einmal stehen, schaute dem Jungen mit benebeltem Blick in die Augen und sagte:

„Ich verrate dir jetzt das Geheimnis meines Erfolgs, Kleiner. Pass also gut auf! Es gibt nur eine Sache, auf die es ankommt im Leben: Titten!“