mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Jäger des verlorenen Geschenkes

von Olaf Fritsche

Wie Carl den Job hasste! Er hasste das Einkaufszentrum, in dem er vom Vormittag bis zum Abend saß. Er hasste sein Kostüm, das kratzte und an den empfindlichen Stellen zu eng war. Er hasste die andauernde Musikberieselung, die ihn in einer Endlosschleife mit den ewig gleichen Liedern malträtierte. Und natürlich hasste er seinen Chef und dessen herablassende Attitüde. Am meisten aber hasste er die Kinder. Wie sie zu seinem Platz im Zentrum stürmten, noch bevor Carl seinen Posten bezog. Wie sie sich bemühten, ausnahmsweise geduldig in der Schlange auszuharren, weil Carl sonst persönlich Zeuge werden könnte, wie unartig sie für gewöhnlich waren. Wie sie im Angesicht der Spielwaren in den Geschäften und Boutiquen ringsum hastig ihre Listen ergänzten. Wie ihnen die Nasen liefen und auf seinen Anzug tropften. Wie sie husteten und niesten, bevorzugt mitten in sein Gesicht. Wie sie aufgeregt unverständliches Zeug brabbelten, sobald sie auf seinem Schoß saßen. Wie sich manche vor Nervosität über seinen künstlichen Bart erbrachen. Wie sie ohne ein Wort des Dankes zu den wartenden Muttis rannten, sobald Carl ihre Liste desinteressiert zur Kenntnis genommen hatte. Wie sie selbstverständlich erwarteten, Carl werde ohne Zweifel auch die unverschämtesten Wünsche erfüllen. Das alles und noch viel mehr hasste Carl von ganzem Herzen. Und dennoch saß er hier im Einkaufsparadies Wunschland, weil der Richter meinte, vier Wochen gemeinnütziger Tätigkeit als Weihnachtsmann wären der Resozialisierung eines kleinen Taschendiebes, wie Carl einer war, zuträglicher als ein Monat im Gefängnis.

Carl war sich da mittlerweile nicht mehr so sicher. Er ließ die Smartwatch unauffällig in die weite Tasche seines roten Mantels gleiten, als der verwöhnte kleine Moppel von seinem Schoß rutschte und zu den ungerechtfertigt stolzen Eltern stampfte.

Zu viel Geld, zu wenig Hirn, dachte Carl. Wie sollte etwas Vernünftiges aus einem Kind werden, wenn es schon mit zehn Jahren eine Uhr für mehr als 500 Dollar trug? Das konnte ja nur in der Vorstandsetage eines multinationalen Konzerns enden.

Er wischte sich mit dem künstlichen Bart den Schweiß von der Stirn. Eine halbe Stunde noch musste er die kleinen Kinder bespaßen, und heute Abend waren die großen Kinder dran. Weihnachtsfeier bei einer der finanzstärksten Investmentbanken des Landes. Das hieß, stundenlang kleine Geschenke wie goldene Manschettenknöpfe und Broschen mit Brillantsplittern an zunehmend angetrunkene Yuppies zu verteilen. Einzig die Aussicht auf ein ordentliches Trinkgeld und die Hoffnung, ab und zu einen Blick auf ein strippendes Christmas-Bunny zu erheischen, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht, während ihm eine rosa Fee mit Zahnspange beim Versuch, seinen Oberschenkel zu erklimmen, ihren Zauberstab ins Auge stieß.

Schlimmer als ihr Nachwuchs werden die erwachsenen Geldsäcke wohl nicht sein, hoffte er. Und wusste im selben Augenblick, dass ihm kein Christkind der Welt diesen Wunsch erfüllen konnte.


"Sach ma, Schanda Claus: Wiecho heissu eignlich Claus?"

Der Atem des Mannes in maßgeschneidertem Anzug und handgenähten Schuhen war noch übler als seine Aussprache.

"Eigentlich ist es Klaus mit K, aber sie haben bei meiner Taufe das t und den Apostroph vergessen", antwortete Carl und fragte sich, ob der Mann wohl im nüchternen Zustand irgendwann auf "Santa Klaut's" kommen würde.

Den Moment der totalen geistigen Überforderung nutzte er geschickt, um dem Frager jovial auf die Schulter zu klopfen und diskret die Brieftasche aus dem Jackett zu ziehen. Er würde nachher auf der Toilette nach dem Inhalt sehen, das Bargeld herausnehmen und den Rest irgendwo in einer Ecke fallen lassen. Erfahrungsgemäß wunderte es niemanden, wenn bei feuchtfröhlichen Feiern Dinge verloren gingen und am nächsten Morgen vom Reinigungskommando an den seltsamsten Orten wiedergefunden wurden. Keiner von denen wusste, wie viele Scheine er mit sich herumtrug, und die Kreditkarten fasste Carl nicht an. Santa Klaut's war schließlich nicht so doof, eine Brotkrumenspur zu sich selbst zu legen, grinste Carl. Und gegen ein wenig Trinkgeld aus den Börsen der Börsengurus würde doch allenfalls ein übermäßig oberstrenger Richter etwas einzuwenden haben, oder?

Geschickt wich er der Champagnerfontäne aus, die ein pickliger Junginvestor verspritzte. Vermutlich spekulierte er an einem normalen Werktag bereits vor dem Frühstück drei Traditionsunternehmen in den Ruin und glaubte nun, mit seinem pubertären Gehabe besonders männlich zu wirken. Heimlich schob Carl ihm die Lady Datejust von Rolex von der überschminkten Mittvierzigerin am Kaviarbuffet in die Westentasche. Wie schade, dass er am nächsten Morgen nicht miterleben würde, mit welcher Ausrede der Aknespekulant den unrechtmäßigen Besitz der Luxusuhr zu erklären versuchte.

"Hohoho!", rief Carl mit der tiefsten Stimme, die er zuwege brachte. Er entleerte eines der Briefchen mit echtem Goldstaub über dem Kopf eines Mannes mittleren Alters. Die Briefchen waren abgezählt, und Carl musste auf einer Liste für jedes einzelne eintragen, wo und wann er es verwendet hatte. Man war in der Bank nicht nur unanständig reich, sondern gegenüber Habenichtsen und Personal auch krankhaft misstrauisch. Sonst hätte Carl nur zu gerne eines der Briefchen für seine persönliche Verwendung abgezweigt. Die Goldkörnchen blieben an der Brillantine im Haar des Mannes kleben. Es sah aus wie glänzender, gelber Puderzucker.

"Du kannst dir dein Hohoho sonstwo hinstecken", knurrte der Mann. Er sah Carl mit einem stechenden Blick an, dem es deutlich an weihnachtlichem Frohsinn mangelte.

"Verzeihung, Sir!" Carl putzte kurz ein wenig Goldstaub von den Schultern des Mannes und zog sich dann mit entschuldigend erhobenen Händen zurück.

So ein Miesmacher, dachte er. Entweder musste der die ganze Sause hier bezahlen, oder er war von Berufs wegen ein Griesgram. Wie ein Investmentbanker sah er eigentlich nicht aus. Vielleicht einer der eingeladenen Geschäftspartner? Carl schlich in eine Ecke und drehte sich mit dem Rücken zur Party. Er wollte schnell mal nachsehen, um wen es sich bei dem Goldköpfchen handelte. Doch seltsamerweise fand Carl in der Brieftasche, die er während des Abputzens an sich genommen hatte, weder Führerschein noch Ausweis oder Visitenkarte. Dafür einen Schlüssel mit einem komplizierten Bart. Carl erkannte auf den ersten Blick, zu welchem Schloss dieser Schlüssel gehörte. Er war selbst ein großer Freund der entsprechenden Einrichtung. Wenn es darum ging, heikle Ware für ein paar Stunden zu lagern, waren die Schließfächer am Bahnhof die erste Wahl. Was mochte in diesem Fach liegen? Carl steckte den Schlüssel ein und schlenderte zurück ins Gewühl. Goldköpfchens restliche Brieftasche versenkte er in der Bowleschüssel. In einer guten Stunde konnte er sich hier loseisen. Dann würde er auf dem Weg nach Hause einen Abstecher zum Bahnhof einlegen.


Der Bahnhof war weitgehend ausgestorben, als Carl deutlich nach Mitternacht dort eintraf. Lediglich ein Obdachloser vor dem Eingang hob den Kopf und beschwerte sich lauthals, sein Wunschzettel wäre verlorengegangen. Carl belohnte ihn mit einem hochgereckten Daumen und ging weiter.

Die Nummer des Schließfachs war in den Schlüssel eingeprägt. Die Tür quietschte leise, was Carl in der ansonsten vollkommen stillen Halle unnatürlich laut vorkam. Es war nicht erstrebenswert, während eines Diebstahls die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, darum nahm Carl das kleine in Packpapier eingewickelte Päckchen aus dem Fach hastig an sich und steckte es in seinen Weihnachtsmannsack. Dann schloss er die Tür wieder und verließ schleunigst den Bahnhof. Im Eingangsbereich stieß er beinahe mit zwei Kerlen zusammen, die groß und breit wie Kleiderschränke waren und es anscheinend ebenso eilig hatten wie er. Womöglich wollten sie einen Zug erwischen und rechneten nicht mit entgegenkommenden Weihnachtsmännern. Oder Goldköpfchen hatte inzwischen gemerkt, dass ihm der Schlüssel abhandengekommen war, und diese beiden Gorilla-Imitate zur Kontrolle geschickt, durchfuhr es Carl. Sicherheitshalber sprang er in die nächstbeste Straßenbahn. Wohin sie fuhr, war ihm vorerst egal. Hauptsache, weg vom Bahnhof.


Kate von der Wunderwelt, der Boutique, wo jeder etwas findet, war sauer. Dieses Jahr wäre es Nellys Aufgabe gewesen, die Wichtelpäckchen für die Weihnachtsfeier des Police Departments zu packen. Aber Nelly hatte sich natürlich krank gemeldet. War echt typisch für sie. Damit blieb es wieder mal an Kate hängen. Genervt pustete sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Wenigstens war Carl, der Weihnachtsmann des Einkaufszentrums, pünktlich erschienen und hatte seinen Jutesack am feierlich geschmückten Nordpol-Stand abgelegt, bevor er mit seinem Kostüm zum Umkleiden in einer Kabine verschwunden war. Kate holte sich den Sack und begann, die Wichtelliste abzuarbeiten. Reihe für Reihe schritt sie die Gänge ab und warf in den Beutel, was die Polizisten ihren Kollegen zu schenken gedachten. Anschließend kippte sie alles auf dem Verpackungstisch aus und machte sich mit Weihnachtspapier, Schleifchen und Glitterkram ans festliche Einpacken. Auf jedes fertige Päckchen klebte sie ein Post-it mit dem Namen des Empfängers. Als die Reihe an einem lieblos in Packpapier gewickeltem Gegenstand war, stutzte sie kurz. So etwas hatte es voriges Jahr nicht gegeben, und es stand auch keines auf der Liste. Was sollte sie damit machen? Es auspacken in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, für wen dieses Präsent gedacht war? Bei der Polizei anrufen und nachfragen? Dauert alles viel zu lange, befand Kate. Sie war schneller fertig und machte sich weniger Arbeit, wenn sie das Packpapierding wie jedes andere Geschenk behandelte und ohne Beschriftung in den Sack warf. Carl, der dieses Jahr den Polizei-Weihnachtsmann spielte, würde auf der Feier schon merken, wer nichts bekommen hatte und für wen daher dieses Was-auch-immer gedacht war. Zum Ausgleich für das schmuddelige Aussehen wählte sie ein besonders schön glänzendes Papier aus und gleich zwei Schleifen in Gold und Silber. Wenigstens der Schein macht jetzt etwas her, dachte sie und stopfte es zu den anderen Wichtelüberraschungen.


"Pass bloß auf, wenn du da rausgehst!" Das Weihnachtsmannkostüm von Carls Ablösung war verschmutzt und an mehreren Stellen eingerissen. Unter den buschigen weißen Brauen leuchtete ein frisches blaues Auge. "Die verprügeln Weihnachtsmänner und klauen ihnen die Säcke."

"Wer? Und wieso?" Carl schluckte schwer. Er hatte eine dunkle Ahnung, wie die Antworten auf seine Fragen lauteten.

"Woher soll ich das wissen? Irgendwelche Schlägertypen halt. Mich haben die auch erwischt. Haben mir eine verpasst und wollten mir gerade den Sack wegreißen, da konnte ich abhauen." Die Ablösung rieb sich den aufgerissenen Ellenbogen. "Mensch, dabei sind da doch nur Geschenkattrappen drin."

Schon klar, was die suchen, dachte Carl. Die sind hinter dem Päckchen aus dem Bahnhofsschließfach her. Offenbar setzt da jemand Himmel und Hölle in Bewegung, um das wiederzubekommen. Carl ginge jede Wette ein, dass die beiden Typen, denen er am Ausgang des Bahnhofs begegnet war, zur Mafia oder einer anderen Organisation gehörten und schnell auf die Idee gekommen waren, dass dieser ominöse Weihnachtsmann das Fach ausgeplündert hatte. Tja, nur wimmelte es derzeit in der Stadt von Weihnachtsmännern. Dieses Päckchen musste enorm wichtig sein, wenn die Mafia wahllos alle Weihnachtsmänner aufmischte. Brute-force-Methode im wörtlichen Sinne.

Trotzdem musste er jetzt langsam los. Wo dieses intensiv gesuchte Päckchen abgeblieben war, wusste er nicht. Der Sack, in den er es gestern gesteckt hatte, war heute Morgen verschwunden, als er aus der Umkleidekabine kam. Stattdessen hatte man ihm diesen prall gefüllten Sack mit den Wichtelgeschenken für die Weihnachtsfeier der Polizei in die Hand gedrückt. Welche Ironie! Von der Mafia gejagt und unterwegs zur Cop-Fete!

Hoffentlich komme ich überhaupt so weit, dachte Carl. Er warf sich den Sack über die Schulter, zog die Kapuze tief ins Gesicht und verließ das Einkaufszentrum.


Sie lauerten ihm beim Umsteigen von einer Straßenbahn in die nächste auf. Hätte ihm seine Ablösung nichts davon gesagt, dass Weihnachtsmänner momentan für die schweren Jungs als Freiwild galten, wäre er ihnen schnurstracks in die Arme gelaufen. So aber wurde er sofort auf die drei Typen aufmerksam, denen das Wort ÄRGER in Großbuchstaben auf die Stirn geschrieben stand und die aus verschiedenen Richtungen auf ihn zu schritten.

Scheiße!, dachte er. Wissen die nicht, dass Nonnen, Schweizer und Weihnachtsmänner Immunität genießen?

"He, du!" Der größte Schläger war ihm am dichtesten und startete ohne Zögern die Konfrontation. "Was hast du da in dem Sack?"

Carls Herz schaffte es, bis zum Hals zu schlagen und ihm gleichzeitig in die Hose zu rutschen. Er stand zwar ausnahmsweise auf Seiten von Recht und Gesetz und transportierte sogar Geschenke für die Polizei, doch wenn man mal einen Cop brauchte, dann war der natürlich schon auf der Weihnachtsfeier. Carl war auf sich allein gestellt und musste sich wohl oder übel auf seine Notprogramme als Taschendieb verlassen.

"Wer? Ich? Was für einen Sack meinen Sie?"

Doof stellen, war immer ein guter Anfang. Carl drehte sich im Kreis, als hielte er nach jemand anderem mit einem Sack Ausschau. Vier Meter bis zum mittelgroßen Ganoven, fünf bis zum kleinen, registrierte er. Also Durchbruch beim Riesen, der mittlerweile auf zwei Meter herangekommen war und damit am wenigsten Zeit hatte, auf einen überraschenden Ausfall zu reagieren.

"Na, den Sack auf dei..."

Weiter kam er nicht in seinem Satz. Carl schleuderte ihm urplötzlich den prall gefüllten Jutesack ins Gesicht und trat ihm fast gleichzeitig zwischen die Beine. Mit einem Schmerzensschrei griff sich der Riese in den Schritt und ging zu Boden.

"Hohoho!", rief Carl und spurtete an ihm vorbei. Die beiden übriggebliebenen Mafiosi hinter ihm her.

Unter normalen Umständen hätte Carl versucht, möglichst schnell in einer möglichst dichten Menschenmenge unterzutauchen und möglichst unsichtbar zu werden. Mit seinem signalroten Mantel, dem schweren Sack und den Profigangstern auf seinen Fersen hielt er das mit der Unsichtbarkeit allerdings für ein nur schwerlich zu erreichendes Ziel. Dieses Problem und die Tatsache, dass seine Verfolger immer näher kamen, zwangen ihn, blitzschnell eine neue Taktik zu entwickeln. Darum schwenkte er an der dritten Kreuzung scharf nach rechts ein – und rutschte auf einer vereisten Pfütze aus. Es krachte ziemlich laut, als er auf den Sack mit den Geschenken fiel und dabei vermutlich einige der Päckchen verbeulte, die Kate mit viel Liebe geschnürt hatte. Das Krachen war jedoch nichts im Vergleich zu den Knacken seiner Knochen, mit dem er nun rechnen musste, als ihn die beiden schwer atmenden Schläger erreichten.

"Kann ich Ihnen helfen, Sir?"

Ein freundlich lächelndes Gesicht schaute auf Carl herab. Eines, von dem Carl eigentlich nicht erwartet hätte, dass er jemals erleichtert wäre, es zu sehen. Vor allem nicht die Uniform, die der Besitzer des Gesichts trug. "Bei dem Wetter muss man wirklich vorsichtig sein", sagte der Polizist, während er Carl auf die Beine half. Im Augenwinkel sah Carl, wie die Mafiosi einen Moment zögerten und sich dann leise fluchend zurückzogen.

Bestimmt handelte es sich bei ihnen nicht um große geistige Leuchten. Aber so dämlich, einen Weihnachtsmann direkt vor einem Polizeirevier anzugreifen, waren sie doch nicht.

Verzweifelte Situationen verlangen verzweifelte Maßnahmen, dachte Carl. Wie gut, dass er aus seiner Tätigkeit als Taschendieb die Lage aller Polizeireviere in der Stadt kannte.


Den restlichen Weg zum Ort der Weihnachtsfeier des Police Departments legte Carl auf dem Rücksitz eines Streifenwagens zurück. Dieses Mal nicht in Handschellen, sondern mit einem frisch gebrühten Kaffee im Magen und ausgesprochen gut gelaunten Polizisten auf den Vordersitzen. Dennoch war ihm ein wenig mulmig zumute. Nachdem er sich auf dem Revier von der Verfolgungsjagd berappelt hatte, hatte er den Sack geöffnet, um zu prüfen, ob mit den Geschenken noch alles in Ordnung war. Bis auf ein paar Verknautschungen hatten es die meisten Päckchen gut überstanden, stellte er fest. Allerdings waren etliche Post-its mit den Namen der Empfänger abgefallen, und es gab keinerlei Anhaltspunkte, welcher Aufkleber auf welches Geschenk gehörte.

"Ist doch egal!", lachte der wachhabende Officer und klopfte Carl beruhigend auf die Schulter. "Es kommt doch eh nur auf den Gedanken an. Kleben Sie die Dinger einfach irgendwo drauf. Wem sein Geschenk nicht gefällt, der kann ja tauschen."

Keine schlechte Idee, befand Carl und befolgte den Rat. Am Ende hatte er zwar ein Päckchen übrig, für das er kein Post-it finden konnte, aber das war besser als umgekehrt. Dieses Geschenk bekam eben, wer zum Schluss keines in den Händen hielt. Oder Carl nahm es als Trostpreis für sich selbst, falls alle versorgt wären. Verdient hätte er es jedenfalls.


Die Weihnachtsfeier des Police Departments war herzlicher, aber auch derber als bei den Investmentbankern. Anstelle von Champagner bekam Carl als erstes ein Bier in die Hand gedrückt, und zuckte zusammen, als ein Polizist mit roten Haaren seinen Kollegen Knallerbsen unter die Füße warf, sodass es auf der Tanzfläche knatterte wie bei einer Schießerei. Da bis zur Bescherung noch eine Stunde Zeit war, durfte sich Carl solange am kalten Buffet bedienen und den Gesprächen lauschen. So erfuhr er allerlei nützliche Informationen für sein Hauptgewerbe, etwa wo demnächst verstärkt Fußstreifen unterwegs sein würden und welcher Hehler unter intensiverer Beobachtung stand.

Dann war der große Moment gekommen. Die Polizeikapelle spielte einen Tusch, und Carl wurde auf die Bühne gebeten. Mit einer oskarverdächtigen Schauspielleistung schleppte er den scheinbar unglaublich schweren Sack nach vorne, setzte sich auf den dort bereitstehenden Stuhl und nahm das gereichte Mikrofon entgegen. Theatralisch öffnete er den Sack, zog das erste Wichtelpäckchen hervor und las laut den Namen auf dem Post-it vor.

"Sergeant Drebin!"

"Hier!", donnerte es aus dem Raum. Sergeant Drebin drängelte sich durch die Wartenden auf die Bühne, nahm das Päckchen entgegen, riss das Papier ab und hielt strahlend einen Haarföhn in die Luft, der sich im Scheinwerferlicht auf seiner Glatze spiegelte.

"So einen habe ich mir schon mmer gewünscht", rief er. "Endlich kann ich mir ein paar Haare wachsen lassen, ohne Sorge, wie ich sie wieder trocken kriege."

Alles lachte, und Carl holte das nächste Geschenk hervor. Die meisten Wichtelgaben waren so wenig individuell, dass sie auf jeden passten. Pralinen, ein Buch mit Gangsterwitzen, zwei Freikarten für ein Eishockeyspiel und plüschige Ohrenwärmer mit aufgestickter Dienstmarke. Andere Gaben gerieten zweifellos an den falschen Adressaten. Darunter der Rasierapparat für die Sekretärin des Chiefs, ein pinkfarbener "Massagestab" für einen alten Lieutenant kurz vor der Pensionierung und das Makeup-Set Deluxe für den Deputy Commissioner. Doch statt für Unmut zu sorgen, heizten die offensichtlichen Verwechslungen die gute Stimmung noch mehr an.

"Chief Stanford!", rief Carl aus und streckte ein Geschenk mit gleich zwei Schleifen in die Höhe, einer goldenen und einer silbernen.

Mit federnden Schritten wie ein junger Bursche sprang der Chief unter dem Applaus seiner Leute auf die Bühne. Um sich selbst die Überraschung nicht zu verderben, kniff er die Augen zu, während er zuerst das Geschenkpapier und dann das Packpapier abzog. Als er sie wieder öffnete und den Inhalt emporreckte, wurde es schlagartig still im Raum. Nur der Stuhl, auf dem bis vor wenigen Sekunden der Weihnachtsmann gesessen hatte, klapperte beim Umfallen, doch darauf achtete niemand. Sie alle hatten nur Augen für das Geschenk des Chiefs. Eingeschweißt in Folie und weiß wie Schnee. Unverkennbar genügend Kokain, um damit eine ganze Kleinstadt zu versorgen.


Carl hatte gleich zu Beginn des Auspackens das Packpapier erkannt. Was auch immer darin steckte, konnte nichts Gutes für ihn bedeuten, wenn es hier vor über hundert Polizisten ausgepackt wurde. So viel war ihm klar, obwohl er keine Ahnung hatte, was gleich enthüllt würde. Deshalb zögerte er keinen Augenblick und trat direkt die Flucht an. Er schlüpfte gerade zur Tür hinaus, als die ungläubige Stille im Saal in ein gemurmeltes Durcheinander überging. Und bevor die ersten Stimmen fragten, wo denn dieser Weihnachtsmann abgeblieben wäre, hatte er schon einen Häuserblock zurückgelegt.

Keuchend lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand. Na, toll! Jetzt war außer der Mafia auch noch die Polizei hinter ihm her!


Für den folgenden Tag hätte Carl sich am liebsten krankgemeldet. Doch das ging nicht, denn wenn er auch nur einen Tag ohne amtsärztliches Attest fehlte, so hatte es der Richter verfügt, würde er in den Bau wandern und musste den vollen Monat absitzen. Dort würde er garantiert einigen Mitgliedern der Mafia begegnen, und das wäre für seine Gesundheit noch abträglicher als jede gewöhnliche Gefängnisstrafe.

Zum Glück wusste die Mafia weiterhin nicht, welchen Weihnachtsmann sie eigentlich suchte. Da die Aktion mit dem Verprügeln nichts gebracht hatte, war sie auf eine andere Strategie verfallen: Die Schläger hatten sich selbst als Santa Claus verkleidet und hofften, auf diese Weise an Informationen über den Verbleib des Päckchens zu kommen. Dementsprechend wimmelte es in der Stadt von Weihnachtsmännern, die so grimmig dreinschauten, dass selbst die hartgesottensten unartigen Kinder bei ihrem Anblick spontan anfingen zu weinen und schworen, ab sofort immer und für alle Zeiten brav zu sein.

Am späten Nachmittag verdoppelte sich die Zahl der Weihnachtsmänner auf den Straßen noch einmal. Bis dahin hatte die Polizei festgestellt, dass ihnen die Santa-Claus-Vermittlungszentrale nicht verraten konnte, wer auf ihrer Weihnachtsfeier die Geschenke verteilt hatte.

"Schätzchen, das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir hängen die Anfragen an das Schwarze Brett, und jeder unserer Weihnachtsmänner nimmt morgens die Zettel mit, die er im Laufe des Tages abarbeiten will", hatte die Sekretärin den Officers mitgeteilt und ihnen zum Trost ein paar Zimtsterne in die Hände gedrückt.

Also fiel auch den Cops nichts Besseres ein, als ihre Beamten undercover in roten Kostümen auf die Straße zu schicken.

Als Konsequenz drängten sich an neuralgischen Punkten wie dem Weihnachtsmarkt mehr argwöhnisch äugende Weihnachtsmänner als Zivilisten. Dennoch blieb es erstaunlich friedlich. Zwar zog ein Junge eine Pistole aus der Tasche eines Mafia-Weihnachtsmannes und rief aus: "Boah, ich wusste gar nicht, dass Santa bewaffnet ist! Bestimmt, damit niemand die Geschenke klaut." Und ein Santa-Cop wurde von einem frechen Mädchen mit seinen eigenen Handschellen an den Deko-Schlitten gekettet. Über eine halbe Stunde weigerte sie sich, den Schlüssel rauszurücken, wenn der Weihnachtsmann nicht vorher schriftlich versprach, dass sie endlich ein Pony kriegen würde. Davon abgesehen gab es keine besonderen Vorkommnisse. Und Carl zog sein Kostüm erst bei der Arbeit an und hinterher gleich wieder aus, um nicht in irgendwelche Unannehmlichkeiten verwickelt zu werden.


Die bahnten sich einen weiteren Tag später dennoch an, als die Mafia aus einem der „echten“ Weihnachtsmänner herausquetschte, wer auf der Feier der Investmentbank den Santa Claus gegeben hatte. Sobald sie den Namen von Carl kannten, war es ein Leichtes herauszufinden, dass er während der Öffnungszeiten im Einkaufsparadies Wunschland saß. Triumphierend beorderte der Obermafiosi seine Weihnachtsmänner auf der Stelle in das Einkaufszentrum.

Ungefähr zur gleichen Zeit hatte Sergeant Drebin ermittelt, dass sein Haarföhn aus einem der dort ansässigen Geschäfte stammte, und er befragte gerade Kate, für welchen Weihnachtsmann sie den Wichtelsack gepackt hatte, als er den unerwarteten Auflauf an zusätzlichen Weihnachtsmännern registrierte. Weil etliche von ihnen Schlagstöcke, Schlagringe und sogar Schusswaffen bei sich trugen, alarmierte er sofort über Funk die Zentrale, die umgehend sämtliche Einsatzkräfte aus dem Gebiet in das Einkaufszentrum schickte. Alle miteinander in Santa-Claus-Kostümen, wie sich herausstellte.


Die Ereignisse der folgenden halben Stunde ließen sich im Nachhinein nicht mehr lückenlos ermitteln und sind in einer Akte mit dem Codenamen Santa-Chaos abgelegt.

Aus Sicht von Carl fing es damit an, dass sich um ihn und die Kinder sowie deren Eltern immer mehr Weihnachtsmänner mit grimmigen Gesichtern ansammelten. Bevor diese aber beginnen konnten, ihre zweifellos finsteren Vorhaben umzusetzen, bildete sich ein zweiter Ring ebenso entschlossener, jedoch amtlicher dreinschauender Santas. Wie auf ein Kommando zogen beide Gruppen plötzlich allerlei Waffen hervor, und irgendwer rief: "Hohoho! Die Hände hoch!"

Das war der Moment, in dem Panik ausbrach und die Situation eher unübersichtlich wurde.

Beim Anblick der bewaffneten Weihnachtsmänner bekam es eines der Kinder mit der Angst zu tun und fing an zu schreien, es wäre immer artig, das mit der kaputten Vase sei sein kleiner Bruder gewesen und überhaupt hätte ihm niemand erzählt, dass der Weihnachtsmann eine Knarre hatte. Davon angesteckt begannen alle anderen Kinder ebenfalls zu kreischen und zu brüllen, und binnen weniger Sekunden tobten sie wie eine Horde erschrockener Minibüffel auf Kniehöhe der Erwachsenen durcheinander. Carl wurde gleich zu Beginn von seinem Hocker gestoßen. Eltern riefen nach ihrem Nachwuchs oder schnappten sich in ihrer Verzweiflung irgendwelche Knirpse, egal welche. Und mehr als einen Mafiosi und Polizisten rissen die kindlichen Fluten von den Beinen. In dem Tohuwabohu löste sich schließlich ein Schuss. Nur ein einzelner, doch die Kugel traf zufällig die Sprinkleranlage, die daraufhin pflichtgemäß den gesamten Bereich unter Wasser setzte. Ein gemischtes Kuddelmuddel aus Kindern, Eltern, Mafiosi und Cops strömte durch die Ausgänge aus dem Einkaufszentrum, wo sie von der uniformierter Verstärkung der Polizei in Empfang genommen wurden. Weil die Cops auf die Schnelle nicht unterscheiden konnten, welcher Weihnachtsmann zu ihnen gehörte und welcher nicht, nahmen sie sicherheitshalber vorerst alle in Gewahrsam.

Selbst der alte Lieutenant, der inzwischen herausgefunden hatte, welchem Zweck sein Wichtelgeschenk diente und es schleunigst im Internet verkauft hatte, konnte sich nicht erinnern, dass die Arrestzellen jemals zuvor dermaßen überfüllt gewesen waren.

Immerhin war wie durch ein Wunder niemand verletzt worden. Und am Abend hatte jedes Kind seine richtigen Eltern wiedergefunden.


Natürlich hatte die Aktion ein Nachspiel. Je nach Rolle fiel es für alle Beteiligten mehr oder weniger glimpflich aus.

Im heftigen Bemühen, die Schlagzeilen in den Zeitungen einigermaßen abzumildern, lud das Einkaufszentrum die Kinder und ihre Eltern als Entschädigung ein zu einer Weihnachtsfeier mit Torte, Eis und Geschenken – aber ohne Weihnachtsmann. Erstaunlicherweise kamen weitaus mehr Familien, als das Einkaufszentrum fassen konnte, was den Leiter gelinde daran zweifeln ließ, dass tatsächlich nur Leidtragende des Santa-Chaos erschienen waren.

Die Mafia-Weihnachtsmänner erwartete allesamt eine Anklage wegen unerlaubten Waffenbesitzes, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung. Den Handel mit Drogen konnte ihnen die Polizei nicht nachweisen, weil das entsprechende Beweismittel ja bereits vor den Festnahmen in ihrer Asservatenkammer lagerte. Aber sie war gewiss, dass die Richter das Strafmaß für die anderen Delikte voll ausschöpfen würden.

Für das Urteil gegen Carl ließ sich der Richter besonders viel Zeit. Im Verlaufe des Verfahrens hatte sich herausgestellt, dass Carl zwar nicht unschuldig war, aber auch nicht hatte ahnen können, in welches Verbrechen er mit seiner Selbstbedienungsmentalität hineinschlittern würde. Daher entschied der Richter erneut, Milde walten zu lassen, und verurteilte Carl zu einem weiteren Monat Sozialarbeit.

Abzuleisten als Osterhase im Einkaufsparadies Wunschland.