mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Erwachen

von Olaf Fritsche

"Sir John?"

Die Stimme war leise und klang ein wenig dumpf. Als würde jemand im Nebenzimmer zu ihm sprechen.

"Sir John? Können Sie mich hören?"

"Ja, doch!"

Er war ungehalten. Wer war da? Er mochte es nicht, geweckt zu werden. Schon gar nicht von Fremden aus dem Vorzimmer.

"Sehr gut!"

"Sehr gut? Nichts ist gut! Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wo ist mein Butler?"

"Bitte regen Sie sich nicht auf, Sir John. Ich werde Ihnen alles erklären."

"Das will ich aber auch meinen! Und reden Sie gefälligst lauter! Ich kann Sie ja kaum verstehen."

Er hörte ein leises Rauschen und hatte das Gefühl, seine Nase würde leicht kribbeln, als wenn eine Fliege darauf spazieren ginge.

"So besser?"

Die Stimme war nun viel lauter und deutlicher. Das Kribbeln hatte aufgehört.

"Ja, besser. Sind Sie hereingekommen? Dann ziehen Sie die Vorhänge auf, wenn Sie schonmal da sind! Und stellen Sie sich gefälligst vor, wie es sich gehört! Ich hoffe doch, so viel Benehmen hat man Ihnen beigebracht."

"Ich bin Dr. Matthew, Sir John. Ich bin Ihr Arzt."

"Reden Sie keinen Unsinn, Mann! Für wie blöd halten Sie mich? Ich kenne keinen Dr. Matthew. Mein Arzt ist Dr. Cumberlin."

"Dr. Cumberlin ist auch hier, Sir John. Aber er kann im Moment nicht mit Ihnen reden. Zur Zeit kann nur ich mit ihnen sprechen."

"Was soll das heißen? Ist das hier so eine Art Überfall? Halten Sie Dr. Cumberlin und mich gefangen? Herrgott, machen Sie gefälligst das Licht an! Man sieht ja die Hand vor Augen nicht."

"Das Licht ist an, Sir John."

"Schon wieder so ein Stuss! Wenn das Licht an ist, warum ist es dann so zappenduster?"

"Sir John, ich werde Ihnen ja alles erklären, aber Sie müssen bitte einen Moment zuhören. Und Sie dürfen sich nicht aufregen."

"Nicht aufregen? Sie haben gut reden, junger Mann! Soweit ich verstehe, habe ich Fremde im Haus, mein Butler ist tot, und mein Arzt und ich werden in einem dunklen Raum gefangengehalten. Und da soll ich mich nicht aufregen?"

"Bitte, Sir John! Es ist wichtig, dass Sie ruhig bleiben."

Er wollte etwas erwidern, sagte aber nichts. Es hatte keinen Zweck, mit diesem Arzt, ob echt oder falsch, zu streiten, solange er nicht wusste, worum es ging.

"Na gut, dann klären Sie mich auf. Aber eines sage ich Ihnen gleich: Sie brauchen Ihre Forderungen gar nicht erst aufzuzählen! Mein Anwalt hat strikte Anweisungen, auf keinerlei Erpressung einzugehen."

"Sie verstehen alles ganz falsch, Sir John. Niemand hat die Absicht, Sie zu erpressen oder Ihnen Schaden zuzufügen. Im Gegenteil. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen."

"Da haben Sie aber eine seltsame Art, das zu zeigen. Ich brauche keine Hilfe."

"Doch, Sir John! Ich fürchte, die brauchen Sie."

Die Stimme legte eine Pause ein. Anscheinend wartete sie auf eine spöttische Antwort, doch er sagte nichts.

"Sir John, ich bin der Neurochirurg, der Sie operiert hat. Wenn Sie mich hören, dann nicht mit Ihren Ohren, sondern über ein Implantat im Hörzentrum Ihres Gehirns, das ich eingesetzt habe."

"Implantat? Hörzentrum? Was soll der Humbug? Mein Gehör ist ausgezeichnet!"

"Ich fürchte, da irren Sie sich, Sir John. Ohne das Implantat hören Sie überhaupt nichts. So wie Sie nichts sehen, obwohl hier alles hell erleuchtet ist."

"Was soll das heißen? Dass ich taub und blind bin?"

"Taub und blind und gelähmt vom Hals abwärts."

"Hören Sie! Ich bin ja für so manchen Spaß zu haben, aber das geht entschieden zu weit!"

"Ich weiß, das ist ein Schock für Sie. Dennoch ist es leider die Wahrheit."

"Wie kann das sein? Als ich gestern ins Bett gegangen bin, war ich kerngesund. Vielleicht in einem leicht fortgeschrittenen Alter, aber rüstig wie ein junger Hengst, wie mein Vater zu sagen pflegte."

"Sie sind gestern nicht zu Bett gegangen, Sir John. Sie haben das Bett seit drei Monaten nicht verlassen. Sie haben im künstlichen Koma gelegen. Heute ist der erste Tag, an dem Sie erwachen."

Er schwieg. Konnte wahr sein, was die Stimme sagte? Immerhin hörte er nichts anderes als ihre Worte. Keine Vögel, die draußen sangen. Kein geschäftiges Werken des Personals im Haus. Kein Lärm von der Londoner Straße vor seinem Anwesen. Um ihn herum war es dunkler als in der finstersten Nacht. Und wenn er versuchte, sich aufzurichten oder wenigstens eine Hand zu heben, geschah nichts. Überhaupt nichts!

"Was ... Was ist geschehen?"

"Es war ein Überfall. Sie waren als Kunde in Ihrer Bank, als eine Gruppe maskierter Männer hereingestürmt ist. Es gab eine Schießerei mit der Polizei, und Sie sind durch mehrere Kugeln schwer verwundet worden. Eine durchtrennte Ihr Rückenmark, und ein paar drangen in Ihren Schädel ein. Es ist ein Wunder, dass Sie überlebt haben."

Die Worte lösten eine Blockade in seinem Gedächtnis. Ein Bild blitzte vor seinem inneren Auge auf. Eine weite Halle. Mächtige Säulen. Ein Marmorfußboden. Mahagoniholz. Menschen. Viele Menschen. Schreiende Menschen. Dann ein lauter Knall. Und noch einer. Danach schwarz. Und Leere.

"Ich erinnere mich ... Nicht an alles, aber daran, angeschossen worden zu sein."

"Man hat Sie ins Krankenhaus gebracht und in einer langen Notoperation Ihr Leben gerettet. Aber nicht viel mehr. Ihr Körper kann sich nicht mehr selbst versorgen. Sie sind an Maschinen angeschlossen, die für Sie atmen, ein künstliches Herz, das für Sie schlägt, und jetzt dieses Implantat, das für Sie hört."

"Was ist mit Sehen? Gibt es nicht sowas auch fürs Sehen?"

"Eines nach dem anderen, Sir John. Diese Verfahren sind alle noch recht experimentell. Ich hielt es für sinnvoller, Ihnen zunächst das Gehör zurückzugeben, damit ich Ihnen Ihre Situation erklären kann."

Ein neues Bild. Unter freiem Himmel. Stufen. Er schreitet eine breite Treppe empor. Nicht alleine. Bei ihm sind weitere Männer. Männer, die er kennt. Sie erreichen die hohe Doppeltür.

"Warum höre ich nur Sie und niemand anderen? Sie sagten, Dr. Cumberlin wäre auch da. Ich will mit ihm sprechen!"

"Das werden Sie, Sir John. Aber erst in ein paar Tagen. Vorläufig hat Ihr Implantat nur Kontakt zu einem Hirnwellenscanner, der auf mein persönliches Muster von Hirnströmen trainiert ist. Doch jetzt, da wir wissen, dass es so gut anspricht, werden wir es mit einem Computer verbinden, über den Sie sich in das Handynetzwerk einwählen können."

"Handy? Sie meine, ich kann telefonieren?"

"Genau das, Sir John. Ich dachte, das wäre der einfachste Weg, der Ihnen zugleich die größtmögliche Freiheit gewährt. Sie sagen einen Namen, und über das Implantat wählt der Computer jede beliebige Nummer."

"Moment! Ich sage? Kann ich denn sprechen?"

"Nicht selbst, Sir John. Es läuft wie jetzt zwischen uns: Sie denken, Sie würden etwas sagen, und steuern dadurch die zuständigen Motorneuronen an, was ein weiteres Implantat erkennt und nach außen leitet. Der Computer versteht die Signale und spricht die Worte mit einer recht natürlich wirkenden Stimme aus. Ihr Gesprächspartner wird den Unterschied nicht bemerken."

Noch ein Bild. Er sitzt mit den Männern im Ladeteil eines Transporters. Zwischen ihnen liegt ein Plan. Von einem Gebäude. Er beugt sich vor und zeigt auf den Plan. Erklärt etwas. Gibt Anweisungen. Die Männer nicken.

Langsam ergeben die Puzzleteile ein Ganzes. Er braucht nur die Reihenfolge der Bilder umzudrehen. Dann weiß er wieder, was geschehen ist. Und dass es nicht gut für ihn wäre, wenn jemand anderes dies ebenfalls wüsste.

"Also so etwas in der Art wie Gedankenlesen? Kann mir jeder ins Gehirn schauen? Haben Sie eine Ahnung, was ich jetzt gerade denke?"

Sein Gegenüber lachte kurz.

"Nein, das habe ich nicht. Niemand hat das. Ihre Gedanken sind weiterhin Ihre Privatsache. Das ist einer der Gründe, warum wir die Reize an den Motorneuronen abgreifen, die normalerweise die Muskeln für das Sprechen steuern. Ich und später jeder andere, den Sie anrufen, hört nur das, was Sie sagen wollen, nicht, was Sie denken."

Das ist gut, überlegte er. Ihm war inzwischen ziemlich klar, was geschehen war, und warum. Weshalb er diese Bank betreten hatte. Nicht aus Zufall. Und nicht als Kunde. Es war durchaus zu begrüßen, wenn alle das glaubten. Das ersparte ihm eine Menge unangenehmer Fragen. Es wäre ihm gar nicht lieb, wenn sie wüssten, dass er in Wahrheit der Kopf der Bande gewesen war. Dass er die Idee für den Raub gehabt, ihn geplant und die Ausführung beaufsichtigt hatte. Es war bis ins Detail sein Projekt gewesen. Nun, nicht bis in jedes Detail. Dass er dabei von Kugeln durchsiebt würde, hatte er nicht vorausgesehen.

"Sir John, jetzt, da Sie wieder bei Bewusstsein sind, bestimmen Sie natürlich, wie die weitere Behandlung aussehen soll. Wenn es Ihnen recht ist, leite ich gleich die Schritte ein, um Sie baldmöglichst mit dem Handynetz zu verbinden. Wären Sie damit einverstanden?"

Er lächelte. Oder vielleicht auch nicht. Er wusste ja nicht, ob er in er Lage war, Mimik zu zeigen.

"Natürlich bin ich damit einverstanden, Doktor! Bitte fangen Sie gleich damit an!"

Er konnte sich gut vorstellen, dass nun auch der Neurochirurg lächelte. Sicher dachte er, er würde dem bedauernswerten Opfer eines brutalen Überfalls helfen. Nun, helfen würde der gute Doktor. Doch nicht einem Opfer. Die Kugeln hatten ihn nicht zufällig getroffen – er hatte sie abgefangen, um seine Leute zu schützen. Ein Macintosh verlor nie einen Mann im Gefecht! Lieber gab er selbst sein Leben her. In diesem Fall nicht ganz das Leben, aber doch beinahe. Wie es aussah, würde er niemals wieder sein Krankenlager verlassen. Es drohte Langeweile ohne Ende. Mehr noch als vor dem Überfall, und schon den hatte er überhaupt nur angefangen, um der Langeweile zu entgehen. Es wäre die schlimmste aller möglichen Strafen gewesen, wenn er hier für alle Zeiten in sich selbst eingeschlossen alleine mit seinen eigenen Gedanken dahinvegetieren müsste. Doch Dank sei dem Doktor und der modernen Medizin! Schon bald konnte er wieder mit Menschen in Kontakt treten. Schon bald gab er erneut Kommandos an die Mitglieder seiner kriminellen Vereinigung. Schon bald überfiel er ein zweites Mal diese Bank. Doch dieses Mal wird alles glatt laufen. Auch wenn er es nur von seinem Bett aus verfolgen konnte, wird es aufregend sein. Sein Leben wird aufregend sein. Aufregend, illegal und kriminell. Die Bank war nur der Anfang.

"Sie ahnen nicht, wie sehr Sie mir helfen, Herr Doktor!"