mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Ein klarer Fall

von Olaf Fritsche

Chief Inspector Patrick McDuff wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der hohen Stirn. Verflucht, ist das wieder heiß diesen Sommer. Dabei haben sie schon September, aber die Hitze will kein Ende nehmen.

„Ein ziemlich klarer Fall, Chief Inspector. Der Kerl kam rein, steuerte direkt auf den Kassierer zu, zog eine Waffe und Peng-Peng-Peng. Drei Schüsse, und unser Opfer war mausetot.“

„Danke, Sergeant. Irgendwelche Zeugen?“

„Mehrere. Sagen alle das gleiche aus. Wir haben auch eine ziemlich gute Täterbeschreibung. Die Fahndung läuft schon.“

„Gute Arbeit!“

Erneut fährt sich McDuff über die Glatze. Es hilft nicht. Das Taschentuch ist längst durchgeschwitzt. Sein Blick wandert zu der offenstehenden Eingangstür der Bank. Die Flügel sind verkeilt, um etwas frische Luft reinzulassen. Aus sicherheitstechnischer Sicht natürlich eine Katastrophe, aber in einem so kleinen Kaff, wo jeder jeden kennt, rechnet natürlich niemand mit einem Überfall.

„Nach der Todesursache zu fragen, erübrigt sich wohl.“

McDuff schaut auf die Leiche herab, die hinter dem Schalter ausgestreckt auf dem Boden liegt. Im Brustbereich weist ein großer Blutfleck überdeutlich darauf hin, wo der Mann getroffen wurde.

„Fast genau ins Herz.“ Der Gerichtsmediziner erhebt sich. Mit einem Nicken gibt er die Erlaubnis, die Leiche einzupacken und abzutransportieren. „Keine Kunst auf die kurze Entfernung.“

„Was hältst du von einem Bier nach Feierabend?“ McDuff atmet schwer. Die stickige Hitze und sein Übergewicht machen ihm zu schaffen. „Der Fall hier wird uns wohl nicht lange aufhalten. Ich wünschte, die Dinge wären bei jedem Mord so eindeutig.“

„Wenn ich mit der Obduktion fertig bin, hätte ich nichts gegen ein kühles Blondes einzuwenden. Habt ihr denn den Täter schon?“

„Ist in Arbeit. Wenn er nicht von außerhalb kommt, sollte das nicht lange … Moment mal!“

McDuff nestelt an der Innentasche seines Jacketts herum und zieht sein Handy hervor, dass als Klingelton den Yankee-Doodle spielt. Er hält es sich auf altmodische Weise ans Ohr und nickt ein paar Male, während er zuhört, was sein Gesprächspartner zu sagen hat. Als er es wieder herunternimmt, hat sich ein feuchter Abdruck seiner Ohrmuschel auf dem Display gebildet.

„Wenn man vom Teufel spricht, …“ Er verstaut das Handy umständlich in der Tasche. „Das war der örtliche Sheriff. Sie haben den Kerl aufgegriffen. Der gibt sogar zu, in der Bank gewesen zu sein. Behauptet natürlich, er hätte den Mann nicht erschossen, aber sowas sagen sie ja alle. In ein paar Minuten will der Sheriff die Gegenüberstellung mit den Zeugen machen, dann wissen wir sicher, ob wir den Richtigen haben. Schätze, das Verhör wird nicht lange dauern. Sieht also gut aus für unser Bier.“

Zufrieden klopft er sich von außen auf das Jackett, dort, wo auf der Innenseite wieder sein Handy steckt. So liebt er seinen Job: Ein klarer Fall ohne jegliche Komplikationen. Spätestens heute Abend wird er wieder in der Distrikthauptstadt sein. Mit ihren Klimaanlagen und kalten Getränken.


„Der Mann ist hier allgemein bekannt.“

Sheriff Ramirez führt Chief Inspector McDuff durch die engen Korridore seiner kleinen Polizeistation. Er ist sichtlich nervös. Einen Mord hat es in seiner Amtszeit noch nie gegeben, soweit er weiß, auch unter seinem Vorgänger nicht. Die schlimmste Straftat, die er selbst bearbeiten musste, war eine zerstörte Schaufensterscheibe, in die ein paar Jugendliche in ihrem Übermut mit dem Pickup gefahren sind. Aber ein Tötungsdelikt, noch dazu auf solch brutale Weise … Er weiß gar nicht, wie er seine Dankbarkeit ausdrücken soll, dass die Zentrale aus der naheliegenden Stadt den Fall übernimmt.

„Sein Name ist Joseph Fitzgerald Ames. Hat ein paar Vorstrafen auf dem Kerbholz, aber nichts, was hiermit vergleichbar wäre.“

Nichts, von dem du weißt, denkt sich McDuff. Ramirez wäre nicht der erste Provinzsheriff, der seine Schäfchen für Engel hält und nicht ahnt, wie es wirklich hinter den spießigen Kulissen abläuft.

„Hat er gestanden?“

„Im Prinzip alles. Hätte ja auch keinen Zweck zu leugnen, bei den vielen Zeugen, die ihn gesehen haben. Nur will er nicht den tödlichen Schuss abgegeben haben.“

„Jaja, das Übliche.“

„Nicht ganz.“ Sie haben den Vernehmungsraum erreicht und Sheriff Ramirez hat schon die Hand auf dem Türknauf, doch bevor er die Tür öffnet, hat er noch eine Information für den Chief Inspector. „Es gibt da ein pikantes Detail: Das Opfer war sein Schwager.“


„Glauben Sie wirklich, dass Sie damit durchkommen?“

McDuff weitet sich mit zwei Fingern den Kragen. Der Windzug des Ventilators bietet wenigstens einen Hauch von Abkühlung. Er hat das Gerät so gestellt, dass es direkt auf ihn gerichtet ist. Der Verdächtige soll ruhig schwitzen. Je heißer dem wird, desto eher lässt er seine abstruse Geschichte fallen, und sie können alle hier raus. McDuff in die Stadt und dieser Ames hinter Gittern.

„Ich sage Ihnen doch: Es ist die Wahrheit. Ich habe ihn nicht erschossen.“

„Ja, klar! Weil er Ihr Schwager war und Sie sich gegenseitig so lieb gehabt haben.“

Joseph F. Ames presst die Lippen zusammen und schweigt.

Du sagst mir nicht die ganze Wahrheit, Bürschchen, dass erkennt McDuff zehn Meilen gegen den heißen Wüstenwind. Die vielen Jahre als Ermittler haben ihre Spuren in ihm hinterlassen. Und einen untrüglichen Instinkt entwickelt.

„Wir … wir haben uns gestritten, Carl und ich.“

Also doch! Wenn das nicht wie der Anfang von einem wunderbaren Geständnis klingt.

„Aber das war nichts Ernstes! Jedenfalls nichts, weshalb ich ihn umbringen würde!“

„Wie das zu beurteilen ist, das überlassen Sie mal fein mir, ja?“

McDuff sieht genervt auf die Uhr. In einer Stunde könnte er an seinem eigenen Schreibtisch in der Stadt sitzen und den Bericht tippen, wenn dieses Theater endlich vorbei wäre. Aber dieser Mensch ist ein fürchterlich störrischer Hund. Je tiefer er in der Scheiße steckt, desto hartnäckiger besteht er darauf, eine weiße Weste zu haben.

„Sie hatten also Stress mit Ihrem Schwager“, hilft McDuff nach. „Kann ich sogar verstehen. So ein penibler Bankangestellter. Hat Ihnen vermutlich Ihren, sagen wir mal: unsteten Lebenslauf vorgehalten. Das kann einem schon mürbe machen mit der Zeit. Irgendwann will sich da jeder eine Waffe besorgen und dann …“

„Nicht ich habe die Waffe besorgt!“

Nun bleibt McDuff doch der Mund offen stehen. Hat er sich da verhört? Und auch Ames scheint überrascht von seinem plötzlichen Ausbruch. Aber raus ist raus. Ein Zurück gibt es nun nicht mehr.

„Wie bitte?“

McDuff beugt sich weit nach vorn, bis sein dicker Bauch gegen die Tischplatte stößt.

„Die Pistole. Die habe nicht ich besorgt, sondern mein Schwager Carl.“

Scheiße! Jetzt macht der Kerl es kompliziert.

„Und warum hatten dann Sie und nicht Ihr Schwager die Waffe, als Sie in die Bank marschiert sind?“

Ames starrt auf den Becher mit Kaffee, den McDuff sich hat bringen lassen. Er macht das typische Gesicht, wenn sich ein Verbrecher eine neue Geschichte zurechtlegt. Oder wenn er sich fragt, wie viel von der Wahrheit er preisgeben muss.

„Weil ich sie ihm weggenommen habe.“

„Um ihn damit zu erschießen!“

Die Welt kam wieder ins Gleichgewicht.

„Nein! Um zu verhindern, dass er das irgendwie selbst tun konnte.“

Doch nicht. Eher wird es noch verwickelter. McDuff lehnt sich schnaufend auf seinem Stuhl zurück.

„Na, das müssen Sie mir mal erklären.“

Ein paar Sekunden lang zögert Ames. Seine Gesichtsmuskeln spielen ein hektisches Stück.

Ich glaube dir jetzt schon kein Wort, Bürschchen, denkt sich McDuff. Dennoch: Vielleicht ist die neue Story ja ausreichend glaubwürdig, um endlich hier wegzukommen.

„Carl war krank“, beginnt Ames, die Augen fest auf den Kaffeebecher fixiert. „Sterbenskrank. Irgend so eine Art von Krebs, die die Ärzte zu spät erkannt haben. So hat er es mir jedenfalls erzählt. Und dass seine Lebensversicherung nicht zahlt, wenn er infolge einer Krankheit stirbt. Wenn es aber bei einem Unfall passiert, beispielsweise weil sich beim Reinigen einer Pistole ein Schuss löst, dann wären seine Frau und seine Kinder wenigstens versorgt.“

McDuff fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Versicherungsbetrug. Klingt einleuchtend. Mit dem kleinen Haken, dass sich der Tote eben nicht selbst erschossen hat.

„Das war vorgestern, dass er mir davon erzählt und die Pistole gezeigt hat“, fährt Ames fort. Jetzt, wo er angefangen hat, scheint er entschlossen, die ganze Geschichte loszuwerden. „Ich habe ihm gesagt, das wäre eine beschissene Idee und es würde bestimmt eine andere Lösung geben, aber er wollte nichts davon hören. War wie besessen davon, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.“ Er hebt nun doch den Blick und schaut McDuff zum ersten Mal direkt in die Augen. „Da habe ich die Waffe mitgehen lassen, als ich gegangen bin. Damit er keinen Blödsinn macht.“

„Und ihn zwei Tage später damit erschossen.“

„Nein, verstehen Sie denn nicht?“ Ames will die Hände heben, doch auf halber Höhe bremsen die Handschellen, mit denen er an den Tisch gekettet ist, seine Bewegung. „Ich wollte es verhindern. Aber gestern Abend rief Carl mich an und beschimpfte mich, ich würde ihn sabotieren. Und dann sagte er, er hätte einen anderen Weg gefunden, einen besseren. Zuerst war ich erleichtert. Bis er rausrückte, dass er irgendwie an Sprengstoff gekommen sei und damit die ganze Bank in die Luft jagen würde. Es sollte aussehen wie ein Terroranschlag. Bei Terroranschlägen machen die Versicherungen angeblich nie Probleme.“

Er bricht ab, starrt erneut vor sich hin.

„Wie kommen wir von da zu Ihrem Auftritt in der Bank?“, hakt McDuff schließlich nach.

„Sie kapieren es wirklich nicht, oder?“ Halb resignierend schüttelt Ames den Kopf. „Ich wollte ihn aufhalten. Verhindern, dass er nicht nur sich und seine Familie ins Unglück stürzt, sondern auch noch andere Leute mitnimmt. Darum habe ich mir die Pistole geschnappt, bin zur Bank und wollte sie ausrauben. Carl wollte ich als Geisel mitnehmen. Alles, bevor er Blödsinn macht.“

Bei dem Wort Blödsinn stößt McDuff einen spöttischen Grunzer aus.

„Der Plan ist aber gründlich in die Hose gegangen, würde ich sagen.“ Ames öffnet den Mund zu einer Erwiderung, doch bevor er etwas erwidern kann, klopft es an der Tür des Vernehmungszimmers, und der Sheriff beugt sich halb hinein.

„Kann ich Sie mal einen Moment sprechen?“, fragt er den Chief Inspector, dem die Störung in diesem Augenblick gar nicht passt.

„Kann das nicht warten?“, grummelt er.

„Ich fürchte nicht.“

Missmutig stemmt McDuff sich von seinem Stuhl hoch und folgt dem Sheriff auf den Flur. Wehe, wenn die Angelegenheit auf irgendeine Weise noch komplizierter wird.


„Das soll wohl ein Witz sein!“

„Leider nicht.“ Verlegen reicht der Sheriff dem Chief Inspector das ballistische Gutachten. „Ames hat den Kassierer nicht erschossen. Er hat überhaupt nicht abgedrückt, und zu allem Überfluss waren in seiner Waffe nur Platzpatronen.“

„Aber der Mann ist doch tot. Mit einem hübschen Loch in der Brust. Wo kommt das dann her?“

„Von einem Schützen außerhalb der Bank.“ Der Sheriff deutet mit dem Finger auf einen farbig markierten Absatz im Gutachten. „Laut Ballistik stammt das tödliche Projektil aus einem Gewehr und wurde aus größerer Entfernung abgefeuert. Vermutlich aus einer Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir prüfen das gerade. Der Schütze muss durch die offenstehende Tür der Bank geschossen haben.“

McDuff grunzt ungehalten, während er die betreffende Passage studiert.

„Dann ist dieser Ames unschuldig?“, fragt er.

„Nicht unbedingt.“ Der Sheriff kaut ein wenig unsicher auf seiner Unterlippe, bevor er weiterspricht. „Meine Leute haben sich umgehört und herausgefunden, dass der Kassierer spielsüchtig war und einen hübschen Berg Schulden angehäuft hat.“

„Aber Gläubiger bringen ihre Schuldner nicht um. Die wissen nur zu gut, dass ein toter Mann keinen Cent mehr zahlt.“

„Es sei denn, er hat eine Lebensversicherung abgeschlossen, die auch bei Mord fällig wird.“

Wieder diese Versicherung. Nur, dass dieses Mal nicht die Familie in den Genuss des Geldes kommen sollte, sondern irgendwelche Gangster.

„Und woher wussten die Gauner von der Versicherung? War der Tote so dämlich, denen davon zu erzählen?“

„Entweder so“, der Sheriff grinste vielsagend in Richtung der Tür zum Vernehmungszimmer, „oder von unserem Freund hier. Nach unseren Ermittlungen arbeitet Ames nämlich rein zufällig für die Spelunkenbesitzer als Geldeintreiber.“

McDuff stößt einen Pfiff des Staunens aus. Offenbar hat er die Cops in diesem Provinznest unterschätzt. In so kurzer Zeit hätten die Jungs von seinem Revier auch nicht mehr herausbekommen.

„Meinen Glückwunsch, Sheriff!“ Jovial klopft er Ramirez auf die Schulter. „Damit ist endlich wieder alles klar: Das Opfer hatte bei den falschen Leuten Schulden und wurde durch einen verräterischen Schwager wegen der Lebensversicherung ans Messer geliefert. Im Idealfall hätte der auch gleich als Sündenbock herhalten müssen, wenn Sie nicht so sauber gearbeitet hätten.“

Er reibt sich zufrieden die Hände. Das Feierabendbier rückt in greifbare Nähe.

„Aber denken Sie nicht, da könnte noch mehr hinterstecken?“

Der Sheriff sieht ihn trotz des Lobs zweifelnd an.

„Mein lieber Sheriff, lassen Sie sich eines gesagt sein: Ein guter Cop muss immer wissen, wann er einen Fall abschließen kann und wann er sich lediglich zu viel Arbeit machen würde. Und glauben Sie mir: Dieser Fall ist abgeschlossen. Alles liegt ganz klar vor uns. Und das ist alleine Ihr Verdienst.“

Verlegen lächelnd nimmt der Sheriff das Gutachten entgegen, das McDuff ihm wieder in die Hände drückt.

Auch McDuff lächelt. Das ist gerade noch einmal glimpflich ausgegangen. Noch ein oder zwei Tage weiterer Nachforschungen, und der Sheriff und sein übereifriges Team wären wohlmöglich auf den ein oder anderen Hinweis gestoßen, der die Ermittlungen in eine unangenehme Richtung gelenkt hätte. Gut denkbar, dass dann auch McDuff die Lawine nicht mehr hätte stoppen können. Etwa wenn sich der Direktor der kleinen Bank bei der Befragung verplappert und von den Schutzgeldzahlungen berichtet hätte, die eine gewisse neue Organisation von ihm verlangte. Eine Organisation, in der auch McDuff eine Position bekleidet. Eine, die mehr einbringt als das kümmerliche Gehalt eines Chief Inspectors. Die Hinrichtung seines Kassierers dürfte dem Direktor zwar eindrucksvoll demonstriert haben, wie dringend er des Schutzes bedurfte und was passieren könnte, wenn er einen auf geizig machen und nicht bezahlen wollte. Aber man weiß ja im Vorhinein nie, ob nicht trotz aller sorgfältiger Planung eine Panne passiert. So wie die Sache mit den Platzpatronen in der Pistole dieses Schwachkopfes Ames. Wer konnte denn ahnen, dass er die scharfe Munition austauschen und einen eigenen Plan entwickeln würde, um seinen Schwager zu retten. Wie gut, dass er, McDuff, auf einen zweiten Schützen als Backup bestanden hatte. Sonst wären sie alle jetzt ziemlich im …

Belustigt sieht er sich in der Polizeistation um, während er seine Jacke von dem Stuhl nimmt, auf dem er sie für die Befragung abgelegt hatte. Wie kleinbürgerlich hier doch alles ist. Die guten Menschen vermögen sich gar nicht vorzustellen, wo überall das Böse lauert. Es wird so einfach sein, diese kleinen Nester auszunehmen. Eines nach dem anderen. Und falls es dabei mal Ärger gibt, muss eben ein Exempel statuiert werden, und schon läuft der Laden wieder.

Das ist ein ganz klarer Fall.