mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Du siehst mich, du siehst mich nicht

von Olaf Fritsche

Es war wie jedes Jahr am letzten Samstag vor dem Valentinstag. All die jungen Männer, die sich das ganze Jahr über nicht getraut hatten, ihrer Angebeteten einen Heiratsantrag zu machen, nutzten das Datum als selbstgewählte Deadline und gaben sich in den Schmuckgeschäften die Klinke in die Hand. Längst hatten sich die Juweliere auf den Ansturm eingestellt und rechtzeitig Verlobungsringe in allen Variationen und vor allem in großen Mengen geordert. Abgesehen von Weihnachten machten sie in dieser Zeit den größten Umsatz des Jahres. Dementsprechend voll war die Kasse, deren Schublade Elaine zuschob.

„Schon seltsam, dass die meisten Männer selbst ihre Kaugummis an der Tankstelle mit Kreditkarte bezahlen, aber bei Diamantringen plötzlich Bargeld bevorzugen“, wunderte sie sich.

„Tja, ich schätze mal, das liegt an dem Entweder-oder-Prinzip?“ Ihr Chef zog den Schlüssel für die Ladentür aus der Tasche. Es war Zeit, abzuschließen und das Gitter herabzulassen.

„Entweder-oder-Prinzip?“ Elaine sah ihm irritiert zu, wie er seinen massigen Körper um den Tresen schob und sich auf den Weg zur Tür machte.

„Na, entweder haben sie endlich den Mut, sich in die Ehe zu stürzen“, schnaufte er. „Oder sie versaufen das Geld, um ihre Feigheit zu vergessen.“

Er lachte über seinen eigenen Witz, und Elaine lachte aus Höflichkeit mit. Ihr Chef war ein guter Boss, und sie mochte ihn. Seinen Humor fand sie jedoch meist wenig mitreißend.

Gut gelaunt steckte der füllige Mann den Schlüssel in das Sicherheitsschloss, als ein Auto mit quietschenden Bremsen vor dem Laden hielt.

„Ein allerletzter Kunde für heute“, vermutete Elaine. „Spät, aber offenbar endlich zu allem bereit.“

Sie rückte hastig ihre Frisur zurecht. Frisches Aussehen und ein freundliches Lächeln gehörten auch eine Sekunde vor Geschäftsschluss zum guten Service.

Im nächsten Moment gefror ihr das Lächeln im Gesicht. Aus dem Wagen sprang kein fest entschlossener zukünftiger Bräutigam, sondern zwei Männer in dunklen Sportanzügen mit Skimasken über den Köpfen und Pistolen in den Händen. Bevor ihr Chef wusste, wie ihm geschah, stießen sie die schon halb geschlossene Tür auf, drangen in den Verkaufsraum ein und richteten ihre Waffen auf Elaine und ihren Chef. Instinktiv drückte Elaine mit dem Knie auf den Knopf für den stillen Alarm, während die Maskierten ihren Chef zu den Vitrinen drängten.

„Aufmachen!“, befahlen sie.

Elaine gehorchte. Sie hatten solch ein Szenario vor ein paar Jahren mal mit einem Detective vom Raubdezernat durchgespielt. Damals hatte eine Reihe von Überfällen die Geschäftsleute der ganzen Stadt in Panik versetzt, und die Polizei hatte den Ladenbesitzern ein Training angeboten, wie sie sich am besten verhalten sollten. Ruhig bleiben und den Anweisungen der Räuber folgen, damit nichts Schlimmeres passiert, das war der einzige Hinweis, an den Elaine sich erinnerte. Ruhig bleiben! Das war einfach gesagt. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie beinahe die Vitrine mit den Colliers nicht aufbekommen hätte.

„Die Kasse!“, kommandierte der Maskenmann, der sie im Visier hatte.

Sie nickte eilig zum Zeichen, dass sie alles machen würde, was er verlangte. Wie lange dauerte es wohl, bis die Polizei hier war? Was hatte der Detective damals versprochen? Drei Minuten? Lieber Gott, lass diese drei Minuten schnell vorübergehen!

Sie tippte aufs Geratewohl eine Summe in die Kasse ein, damit die Schublade sich öffnete.

„Hier rein!“

Der Gangster reichte ihr eine alte Tüte über den Tresen. Gehorsam füllte sie das Geld hinein. Im Augenwinkel sah sie, wie ihr Chef schwitzend und schwer atmend die Ausstellungsstücke aus den Wandschränken in eine ähnliche Tüte warf.

In der Ferne war eine Polizeisirene zu hören. War sie unterwegs hierher? Die Räuber gingen anscheinend davon aus. Sie griffen nach den Tüten, drohten noch einmal mit ihren Pistolen und gingen rückwärts auf die Tür zu. Kurz bevor sie dort anlangten, drehten sie sich um, und von da an kam es Elaine vor, als liefe alles in Zeitlupe ab.

Der vordere Gangster war schon auf der Straße. Er steckte sich seine Waffe in den Hosenbund, um eine Hand frei zu haben, mit der er die Autotür öffnete. Der andere wollte gerade den Laden verlassen, als sich Elaines Chef, der sich so schnell bewegte, wie sie es ihm niemals zugetraut hätte, auf ihn stürzte und ihm die Maske vom Kopf riss. Der Mann wirbelte herum, und einen Augenblick lang starrten Elaine, ihr Chef und der Räuber einander direkt an. Dann gab es einen lauten Knall, und Elaines Chef krampfte sich im Stehen zusammen, bevor er langsam zu Boden sank. Während Elaine die Hände vor dem Mund zusammenschlug, richtete der Mann ohne Maske seine Pistole auf sie, doch in diesem Moment erhellte abwechselnd rotes und blaues Licht die Fassaden der umliegenden Häuser. Der Schütze sah sich um, und statt abzudrücken, sprang er in das Auto, das losraste, bevor er dessen Tür zugeschlagen hatte.

Zurück blieben Elaine, über deren Wangen sich dunkle Spuren von Tränen und Wimperntusche zogen, und ihr Chef, dessen Blut über den Bürgersteig in den Rinnstein rann.


„So eine seltsame Zeugin habe ich noch nie erlebt.“ Jerry Goldsmith rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. „Ich zeichne jetzt seit zwanzig Jahren Phantombilder für die Polizei, aber noch nie hatte ich einen Zeugen, der sich angeblich an gar nichts erinnern konnte.“

„Wie? Gar nichts? Zeig mal her, was du hast.“ Senior Detective Fraser griff nach dem Block des Zeichners und warf einen Blick auf das Blatt. „Das ist ja leer! Wie kann das denn sein? Die Zeugin behauptet doch, den Mann genau gesehen zu haben. Ohne Maske!“

Er warf Goldsmith den Block zu, den dieser nur mit Mühe auffing, bevor er auf den Boden fiel.

„Fragen Sie mich was leichteres“, sagte er. „Mir hat sie das gleiche erzählt. Nur sobald ich sie nach Einzelheiten zum Gesicht gefragt habe, kam nichts mehr. Nicht zu den Augen, nicht zur Nase, nicht zum Mund. An seine Klamotten konnte sie sich gut erinnern. Bis zum letzten Faden der Trainingsjacke, die er getragen hat. Und dann war Ende der Fahnenstange.“

Er verstaute den Block in seiner schmalen Aktentasche.

„War’s das für heute?“, fragte er. „Ich muss dann nämlich zur Uni. Hab einen Kurs in Aktzeichnen, und meine Studis machen sonst Unsinn mit dem Modell, wenn ich nicht da bin.“

Fraser nickte geistesabwesend.

„Falls der Frau doch noch etwas einfallen sollte, erreichen Sie mich über mein Handy“, sagte Goldsmith.

Er schob sich seitwärts durch die Bürotür, weil in diesem Moment Detective Charly Kabala, Frasers Juniorpartner, hereinkam.

„Gerade ist der Bericht von der Spurensicherung reingekommen.“ Er legte eine Mappe auf Frasers Schreibtisch. Der Senior Detective hatte gerne alles zu seinen Fällen auf dem guten alten Papier. „Die Maske, die der Ladenbesitzer seinem Mörder heruntergerissen hat, war eine richtige Fundgrube. Wir haben die DNA und ein paar Haare des Täters. Und nun rate mal, wen uns die Datenbank dazu ausgespuckt hat!“

Fraser setzte sich in seinem Bürostuhl gerade auf.

„Wen?“, fragte er.

„Ed Cameron!“ Kabala grinste über das ganze Gesicht. „Der kann es einfach nicht lassen. Aber dieses Mal, wo er jemanden umgebracht hat, dürfte für ihn das Spiel wohl zu Ende sein.“

„Worauf du Gift nehmen kannst!“

Fraser stand auf, nahm seine Jacke vom Ständer und zog sie über, während sein Partner ihm die Tür aufhielt.

„Zeit für eine Festnahme!“


„Damit hab ich nichts zu tun, Mann!“ Ed Cameron spuckte vor Wut, als ihm ein Officer die Handschellen anlegte. „Vorigen Samstag war ich bei Freunden. Wir haben gepokert. Das können die alle bezeugen.“

„Ja, klar!“ Fraser winkte dem Officer, Cameron abzuführen.

„Leute wie der geben sich reihum gegenseitig Alibis“, sagte er zu Kabala gewandt. „Das heißt, vor Gericht steht deren Aussage gegen unsere Sachbeweise. Wenn wir Pech haben und er einen DNA-ungläubigen Richter findet, kommt er am Ende mit einem Freispruch davon.“

„Aber wir haben doch einen Augenzeugen“, widersprach Kabala. „Die Frau aus dem Juweliergeschäft. Die hat sein Gesicht gesehen.“

„Ja, gesehen hat sie es.“ Fraser fuhr sich mit dem Daumen über die Lippen. „Aber anscheinend auch irgendwie nicht. Ist jedenfalls eine unsichere Kandidatin.“

„Machen wir eine Gegenüberstellung? Um sicherzugehen, dass sie ihn wiedererkennt?“

Fraser nickte.

„Gute Idee. Außerdem sollten wir die Dame mal unter die Lupe nehmen. Ich habe da so ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Irgend etwas stimmt nicht mit der. Ich habe nur keine Ahnung, was es ist.“ Er legte seinem Partner die Hand auf die Schulter. „Ich trommle ein paar Kollegen für die Gegenüberstellung zusammen. Und du setzt dich an den Computer. Das kannst du besser als ich.“


Zwei Stunden später kaute Elaine nervös auf einem Fingernagel herum. „Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen“, sagte Fraser. „Rufen Sie sich das Bild des Mannes, der Ihren Chef ermordet hat, in Erinnerung, und sagen Sie mir, ob es einer von denen da war.“

Elaine warf einen kurzen Blick zu dem Senior Detective an ihrer Seite, dann schaute sie wieder durch die große Scheibe. Acht Männer standen dort. Alle mittlerer Größe, alle in Jeans und Hemd, alle mit einer Nummernkarte in den Händen. Alle sahen gleich aus.

„Ich … ich weiß nicht.“

„Sie haben den Täter doch gesehen, nicht wahr?“ Fraser konnte den Unmut in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. „Auge in Auge, so haben Sie ausgesagt.“

„Ja! Ja, das stimmt auch.“ Elaine schluckte. Sie blinzelte die Tränen weg. Der Mann hatte vor ihr gestanden. Hatte auf sie gezielt. Um sie zu töten, weil sie ihn ohne Maske gesehen hatte. Vielleicht war es einer von denen dort hinter der Scheibe. Nichts würde sie lieber tun, als auf einen davon zu zeigen und auszurufen: „Der war’s!“ Aber das konnte sie nicht. Sie wusste nicht, ob es einer von denen gewesen war. Sie wusste es nicht!

„Es … es tut mir leid!“, sagte sie leise. Ihr Blick ging zu Boden, ihre Finger nestelten am Kragen ihrer Bluse.

Fraser stöhnte vernehmlich. Hier war doch etwas faul. Ed Cameron, der das Schild mit der Nummer 3 hielt, war eindeutig der Mann, den sie suchten. Der Mörder des langjährigen Chefs dieser Frau, den sie - und nur sie - als Augenzeugin identifizieren konnte, ja: identifizieren musste. Doch aus irgendeinem Grund weigerte sie sich. So etwas war ihm in seinen ganzen 32 Jahren Dienstzeit noch nicht untergekommen.

„Gut!“, sagte er und riss die Tür zum Beobachtungsraum unwirscher auf, als er es beabsichtigt hatte. „Dann haben Sie vielen Dank. Sie dürfen gehen.“

Er ließ Elaine an sich vorbeischleichen. Auf dem Flur gab er einem Officer ein Zeichen, dass sie fertig waren und Cameron und die anderen Männer wieder zurück in die Zelle oder an ihre Arbeit gehen konnten.


„Das solltest du dir ansehen.“

Detective Kabala hielt ihm einen Ausdruck unter die Nase.

„Was ist das?“ Fraser mochte es nicht, wenn man Ratespielchen mit ihm veranstaltete.

„Die Kontoumsätze unserer Zeugin aus den letzten drei Monaten.“

„Und? Irgendwelche Auffälligkeiten?“ Fraser nahm das Blatt und hielt es ein Stück auf Abstand vor sein Gesicht. Verdammt! Nicht mehr lange, und er brauchte eine Lesebrille.

„Kann man wohl sagen.“ Kabala rieb sich die Hände. „Alles ganz normale Buchungen: Gehalt, Hypothekenzahlung, Strom, Wasser usw. Und dann, zwei Tage vor dem Überfall das hier.“ Er wies mit dem Finger auf eine mit Farbstift markierte Zeile. „Zehntausend Dollar Eingang. Ohne Kommentar.“ Fraser stieß einen Pfiff aus.

„Du meinst, das ist Schweigegeld?“

„Sieht jedenfalls sehr nach einem abgekarteten Spiel aus.“ Kabala nahm seinem Seniorpartner wieder den Ausdruck ab. „Wenn du mich fragst, war sie an der Planung des Überfalls beteiligt.“

„Bloß, dass der aus dem Ruder gelaufen und zum Raubmord geworden ist“, führte Fraser den Gedanken weiter. „Auch wenn ihr der Tod ihres Chefs nahe geht, ihren Komplizen darf sie natürlich nicht verpfeifen, ohne selbst hinter Gitter zu wandern.“

„Nehmen wir sie fest?“

Fraser schaute zur Decke. Das fleckige Weiß half ihm beim Nachdenken.

„Nein, noch nicht“, entschied er. „Da war noch ein zweiter Mann. So wie wir unseren alten Freund Cameron kennen, wird der uns nicht dessen Namen verraten. Aber die Dame wird es vielleicht tun. Setzt ein Team zur Beschattung auf sie an. Früher oder später wird sie uns bestimmt zu dem Unbekannten führen.“

Kabala lächelte. Langsam passte alles zueinander und ergab einen Sinn. Das war es, was er an der Arbeit als Detective so liebte.


Staatsanwalt Pete Jennings wollte es versuchen. Er hatte die Haare und die DNA-Spur von der Maske des Mörders, der mutmaßliche Täter hatte ein fragwürdiges Alibi. Und dann war da noch die Augenzeugin des Raubüberfalls, die allerdings das größte Rätsel bei diesem Fall darstellte. Unterm Strich müsste das Material dennoch reichen, um die Grand Jury zumindest dazu zu bewegen, Anklage zu erheben, meinte Jennings. Danach könne man weitersehen.

Wie zu erwarten, setzte der Anwalt des Verdächtigen auf das Alibi seines Mandanten und verlegte sich ansonsten darauf, Zweifel an den Beweisen der Anklage zu schüren. Die Skimaske war Ed Cameron angeblich am Tag vor dem Überfall in einer Kneipe gestohlen worden, weshalb sich natürlich noch Spuren vom ihm daran befanden. Und die Augenzeugin vergoss zwar massenhaft Tränen im Zeugenstand, war aber nicht in der Lage oder nicht Willens, Cameron als den Mann zu identifizieren, der ihren Chef getötet und sie selbst mit der Waffe bedroht hatte. Es war mehr als fraglich, ob die Grand Jury einen hinriechenden Tatverdacht sah, um ein Hauptverfahren anzustoßen. Alles, was Jennings noch in der Hand hatte, waren die Aussagen der Streifenpolizisten, die zuerst am Tatort eingetroffen waren. Aber die hatten nur das Fluchtfahrzeug wegfahren sehen. Einen braunen Buick Regal, der jedoch gestohlen war und am nächsten Tag ausgebrannt im Industriegebiet gefunden wurde. Jennings fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Nein, es sah nicht gut aus für die Anklage.

„Wir legen eine Pause von zwei Stunden ein.“ Der Richter klopfte mit seinem Hämmerchen auf den Tisch und verschwand so eilig, dass sich keiner der Anwesenden rechtzeitig erheben konnte. Es war bereits die dritte Unterbrechung an diesem Vormittag. Für gewöhnlich war Richter Arthur Brown Jr. ein robuster Herr, der ohne mit der Wimper zu zucken, ganze Verhandlungsmarathons durchstand. Gestern musste er wohl etwas Unbekömmliches gegessen haben, dass er heute so viel Zeit in seinem privaten Rückzugsörtchen verbrachte.

„Sie dürfen den Zeugenstand jetzt verlassen“, sagte Jennings zu der überraschten Elaine. Am liebsten hätte er hinzugefügt, dass sie besser nach Hause gehen und sich dort für immer einschließen sollte, doch den Gedanken behielt er für sich.

„Ma'am?“ Verwundert bemerkte Jennings, dass die Zeugin noch immer im Zeugenstand saß. „Ist alles in Ordnung, Ma'am? Sie können gehen.“

Aber Elaine rührte sich nicht. Stocksteif hockte sie auf dem Stuhl, ihre Hände umklammerten fest die Lehne, und an ihrem Hals traten die Sehnen hervor. Jennings fürchtete, sie könne irgendeine Art von Anfall haben und eilte zu ihr.

„Ma'am …“, fing er an.

„Der Mann dort!“ Elaine brachte nur ein heiseres Flüstern zustande. Jennings folgte mit den Augen ihrem Blick. Wie hypnotisiert sah sie zu, wie der Gerichtsdiener Cameron aus dem Saal führte.

„Ja, was ist mit ihm?“ Jennings wusste nicht, ob er neugierig oder genervt sein sollte. Eben noch schien die Zeugin nichts mit Cameron anfangen zu können, und plötzlich versetzte sein Anblick sie in Angst und Schrecken? Wo war denn da der Sinn?

„Er ist es! Das ist der Mörder!“

Elaines Stimme zitterte, aber zugleich hatte sie einen bestimmten Unterton, der von einer tiefen Überzeugung rührte.

„Sie meinen, Sie erkennen ihn jetzt wieder?“ Jennings war verblüfft und verwirrt. „Den Mann, den ich anklagen will?“

Elaine nickte stumm.

„Aber wie …?“, wollte Jennings fortfahren, doch Elaine unterbrach ihn.

„Und den anderen auch!“, sagte sie mit dem gleichen Nachdruck. „Der war auch dabei!“

„Wer?“ Jennings schaute Cameron und dem Gerichtsdiener nach, die in diesem Moment den Saal verließen.

„Der Mann, der den Mörder abführt.“ Elaines Verkrampfung löste sich langsam. Sie sah nun den Staatsanwalt an. Entschlossen und flehentlich zugleich. „Das war sein Komplize bei dem Überfall!“


„Und das glauben Sie ihr?“ Fraser legte die Stirn in Zweifelsfalten. „Bei der Gegenüberstellung im Kommissariat und während ihrer Aussage erkennt sie den Kerl nicht wieder. Erst, wenn er rausgebracht wird, fällt es ihr wie durch ein Wunder wieder ein. Und nicht nur das: Sie identifiziert auch noch den Gerichtsdiener als den Täter, den sie gar nicht ohne Maske gesehen hat. Also, wenn Sie mich fragen, ist bei der Frau etwas nicht ganz richtig im Kopf.“

„Ich frage Sie aber nicht“, fuhr ihm Jennings über den Mund. „Ich weise Sie an, der Sache schleunigst nachzugehen. Bevor der Richter aus der Pause zurück ist, will ich wissen, ob da etwas dran ist.“

„Wir könnten zur Wohnung des Gerichtsdieners fahren, hoffen, dass jemand zu Hause ist und uns reinlässt“, schlug Kabala vor.

Fraser brummte.

„Ohne Durchsuchungsbeschluss kommen wir da aber nicht weit, wenn dieser Jemand uns nicht freiwillig gewähren lässt“, wandte er ein.

„Versuchen Sie’s trotzdem“, forderte Jennings. „Und seien Sie rechtzeitig wieder hier.“

Fraser zog unwillig die Mundwinkel nach oben, zog aber dennoch mit Kabala im Eilschritt los. Staatsanwalt Jennings griff unterdessen sein Handy und wählte eine Nummer.

„Ich will jetzt endlich wissen, was mit dieser Zeugin los ist“, murmelte er, während es tutete.


Zwei Stunden und zehn Minuten später nahm ein sichtlich mitgenommener Richter auf seinem Stuhl Platz und klopfte mit seinem Hämmerchen zur Fortsetzung der Verhandlung. Mit dem letzten Schlag ging die Saaltür auf, und Senior Detective Fraser eilte verfolgt von aller Augen zum ungewöhnlich nervös wirkenden Staatsanwalt.

„Bitte einen ganz kurzen Moment, Euer Ehren“, rief Jennings dem Richter zu, als Fraser bei ihm anlangte. Dann beugte er sich zu dem Polizisten vor.

„Die Zeugin hat Recht gehabt“, flüsterte der ihm ins Ohr. „Wir waren bei der Wohnung des Gerichtsdieners. Seine Frau hat erlaubt, dass wir uns umsehen, und wir haben große Teile des Raubguts gefunden. Außerdem hat sie uns erzählt, dass ihr Mann mit Cameron bekannt ist. Die beiden haben sich im Laufe der vielen Verfahren gegen Cameron kennengelernt und angefreundet.“

„Gute Arbeit!“, raunte Jennings ihm zu.

Er stand von seinem Platz auf und trat zum Richter vor, während sich Fraser in den Zuschauerraum zurückzog.

„Sehr geehrte Grand Jury, Euer Ehren! Wenn Sie erlauben, möchte ich erneut die Zeugin des Überfalls und des Mordes aufrufen“, sagte er. „Und obendrein möchte ich die Anklage erweitern um …“, er drehte sich, sodass er frontal zu Cameron, seinem Verteidiger und dem Gerichtsdiener stand, „… die Anschuldigung des schweren Raubes gegen den Gerichtsdiener Bobby Sailer!“

Einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen im Saal. Dann sprang der Gerichtsdiener mit weiten Sätzen zur Tür, durch die er eben noch Cameron hereingeführt hatte. Er riss sie auf – und lief direkt in die Arme von Detective Kabala und zwei Officern, die ihn im Handumdrehen überwältigten. Der Richter hämmerte hektisch auf sein Pult.

„Verdammt! Jetzt, wo es endlich spannend wird, muss ich schon wieder raus“, schimpfte er. „Wir unterbrechen das Theater für eine Viertelstunde.“


Am folgenden Tag prasselte der Regen an die Fensterscheibe des Büros von Staatsanwalt Jennings. Er bot Fraser eine Zigarre an, die dieser dankend annahm und in die Innentasche seines Jacketts steckte. Kabala lehnte dankend ab.

„Wenn ich irgendwann mal an einem Prozess beteiligt war, bei dem sich die Ereignisse buchstäblich überschlagen haben, dann war es dieser“, sagte Jennings nach den ersten Zügen aus seiner Zigarre.

„Nun sagen Sie bloß, dass Sie sich inzwischen auf das alles einen Reim machen können“, knurrte Fraser. Er rümpfte die Nase. Er mochte keinen Zigarrenrauch und hatte das Geschenk nur angenommen, weil er die Zigarre seinem Schwager zum Geburtstag vermachen wollte. Das sparte immerhin ein paar Dollar, die er lieber in guten Kaffee investierte.

„Nicht ganz“, paffte Jennings. „Ich kann mir zum Beispiel weiterhin nicht erklären, wieso unsere Zeugin kurz vor dem Überfall so viel Geld auf ihrem Konto hatte.“

„Da kann ich helfen“, meldete sich Kabala. „Ich habe bei der Bank nachgeforscht, und es hat sich herausgestellt, dass es nicht mehr als ein dummer Zufall war. Eine Fehlüberweisung, die inzwischen schon rückgängig gemacht wurde.“

„Also kein Schweigegeld oder Anteil an der Beute.“ Jennings nickte zufrieden.

„Die zentrale Frage ist aber doch, wieso die Zeugin erst stur behauptet hat, sie würde Cameron nicht erkennen, und es sich dann so plötzlich anders überlegt hat und sogar den Gerichtsdiener auffliegen lassen konnte.“ Fraser tippte unruhig mit den Fingern auf seinem Knie herum. Dieses Rätsel wurmte ihn zutiefst.

„Genau deshalb habe ich mit einem Gerichtspsychiater telefoniert, während Sie die Hausdurchsuchung gemacht haben“, sagte Jennings lächelnd. „Und der hatte eine spontane Idee, die sich bei einer genaueren Untersuchung am Nachmittag bestätigt hat.“ Er blies genüsslich einen Rauchring in die Luft. „Die Frau hat eine angeborene Prosopagnosie.“

„Eine was?“

„Prosopagnosie. Sie kann keine Gesichter erkennen. Die sagen ihr so wenig wie unsereins eine komplizierte chemische Formel. Meistens bekommen die Betroffenen das durch einen Schlaganfall oder durch einen Unfall, der die entsprechenden Hirnzentren zerstört. Bei unserer Zeugin ist es aber angeboren, sodass ihr der Vergleich fehlt und sie bis zur Untersuchung nicht einmal gewusst hat, dass mit ihr etwas nicht stimmt.“

„Moment mal!“ Kabala beugte sich vor, als würde er besser verstehen, wenn er dichter an dem Staatsanwalt war. „Soll das heißen, sie hat ihr Leben lang keine Leute erkannt?“

„Nicht an deren Gesichtern“, bestätigte Jennings. „Aber Kinder mit Prosopagnosie sind erfinderisch. Sie unterscheiden Menschen anhand anderer Merkmale. Unsere Zeugin hat sich zum Beispiel am Gang orientiert und ist darin eine wahre Meisterin geworden. Deshalb war Cameron für sie so beliebig wie ein weißes Blatt, wenn er still vor ihr stand. Sie hat uns tatsächlich nichts vorgemacht: Sie konnte ihn nicht erkennen, obwohl sie ihm direkt ins Gesicht sah. Erst, als er sich in Bewegung setzte, sind ihr die typischen Nuancen aufgefallen. Bei Cameron und bei dem Gerichtsdiener.“ Er hüstelte. „Anstelle einer Skimaske hätten die beiden sich eher Steinchen in die Schuhe legen sollen, um ihren Gang zu verändern. Das hätte unsere Zeugin vermutlich getäuscht.“

„Und nun?“ Kabala lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück. „Ich meine, der Frau muss doch geholfen werden.“

„Nein. Wieso?“ Jennings lächelte. „Sie ist doch mit ihrer Taktik bislang gut durchs Leben gekommen. Der Psychiater sagte, es wäre wie mit einer Farbenblindheit: Man lernt, damit umzugehen. Allenfalls wirkt man auf das Umfeld etwas zerstreut oder seltsam, wenn man jemanden übersieht, den man eigentlich kennt.“

„Oder wenn man bei Ermittlungen verwirrende Aussagen macht“, ergänzte Fraser.

„Oder dann“, lachte Jennings. „Aber für zukünftige Fälle mit Tätern ohne Gesicht sind wir nun ja vorgewarnt.“

Er ließ erneut zwei Rauchringe aufsteigen. Schweigend verfolgten die Männer, wie sie bis an die Decke schwebten.