mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Der falsche Mord – Teil 1

von Olaf Fritsche

Nun also hatten sie auch ihn erwischt. Wie lange hatte er sich gewehrt? Mit Klauen und Zähnen versucht, diesen Tag zu vermeiden? Oder ihn wenigstens hinauszuzögern, wenn möglich bis zu seiner Pensionierung? Vergeblich. Es hatte nicht sollen sein. Er stieß einen langen, tiefen Seufzer aus.

„Stell dich nicht so an, Kurt! So ein Smartphone ist kein Teufelswerk, damit wirst du schon klarkommen. Ich hab dir extra das neueste Modell besorgt. Das macht praktisch alles von alleine, du brauchst nur damit zu telefonieren wie sonst auch. Das kriegst du doch hin, oder?“

Das kriegst du doch hin! Klar kriegt er das hin. Ist doch kinderleicht. Heutzutage läuft jeder Fünfjährige mit so einem Teil herum und kriegt das hin. Nur waren die schon in eine Welt geboren, wo alles fiepte und piepte und einen Bildschirm hatte. Er aber, er stammte aus einer Welt, in der an jeder zweiten Ecke eine Telefonzelle stand. Knallgelb und nicht dieses hässliche Rosa, das nicht Rosa hieß, sondern Magenta, weil den Werbefritzen dann einer abging. War trotzdem Rosa und das Telefon darin meistens kaputt, weil es irgend so ein dämlicher Jugendlicher witzig gefunden hatte, sein Feuerzeug unter den Hörer zu halten. Diese Idioten. Und wenn es mal in Ordnung war, dann musste man die Nummer per Hand wählen. Mit einer runden Drehscheibe, die ratterte, während die Verbindung hergestellt wurde. Vorausgesetzt, man kannte die Nummer auswendig oder hatte sie sich zumindest aufgeschrieben. Sonst musste man die Auskunft anrufen, und da saß dann ein echter Mensch und suchte sie einem heraus. So kannte er das! Nicht mit so einem seelenlosen Kästchen, das kleiner war als eine Packung Zigaretten, aber so klug, dass es eine Mondrakete landen könnte und nebenher deine Steuererklärung machte.

Ob er das hinkriegt?

„Klar kriege ich das hin!“

Seine Hand ließ das Gerät in die Sakkotasche gleiten. Dort konnte es bleiben bis zum Sanktnimmerleinstag. Er würde es jedenfalls nicht wieder hervorholen. Vielleicht nicht einmal, wenn er das Sakko in die Reinigung gab.

„Ich fahr noch mal los. Diesem Waldner ein paar Fragen stellen.“

„Waldner? Was willst du denn bei dem? Der hat seine Aussage doch längst gemacht.“

„Trotzdem! Mir kommen da ein paar Dinge komisch vor. Will mal sehen, ob er immer noch bei seiner Geschichte bleibt. Kommst du mit?“

„Und mich wieder von seinem sabbernden Boxer vollschleimen lassen? Nee, danke! Wenn du mich nicht unbedingt dabei brauchst, bleib ich lieber hier und erledige ein bisschen Papierkram. Falls etwas ist, kannst du mich ja mit deinem neuen Smartphone anrufen.“

Ganz bestimmt!


Hauptkommissar Kurt Müller war durchaus recht, dass sein Kollege das gemütliche Büro vorzog, statt mit ihm zu diesem schmuddligen Zeugen in dessen versiffter Wohnung zu fahren. Was er in Wahrheit für keine Sekunde vorgehabt hatte. Ihm stand der Sinn im Grunde nur nach ein wenig Ruhe. Früher, da konnte es ihm nie turbulent genug zugehen. Drei Fälle gleichzeitig, bei denen sich die Ereignisse überschlugen, das war seine Welt. Tempo, Action und immer ganz vorne mit dabei. Er lenkte seine Schritte zum Café in der Seitenstraße. Einen guten, altmodischen Kaffee, schwarz mit einem Stück Zucker. Den brauchte er jetzt. Und das war ihm dann auch schon genug Aufregung am Stück.

„Alte Hunde machen es sich nunmal gerne am Ofen bequem“, sagte er zu sich selbst, als bei seinem Eintreten die kleine Glocke über der Tür klingelte und den neuen Kunden ankündigte.

Während er seinen Kaffee trank, las er die Zeitung.

„Wissen Sie eigentlich, dass wir das Blatt überhaupt nur noch für Sie abonniert haben, Herr Hauptkommissar?“, fragte ihn die alte Else, die seit eh und je hinter der Theke stand, als sie ihm den Kaffee und ein belegtes Brötchen, Käse mit hartgekochtem Ei, rüberreichte. „Die jungen Leute von heute, die gucken doch immer nur auf ihre Smartphones. Als wären ihre Nasen draufgeklebt.“

Er wusste es nicht, und ihm gefiel der Gedanke nicht, dass nun auch in seiner Sakkotasche so ein elektronischer Seelendieb schlummerte. Und wenn er es einfach beim Weggehen liegen ließ? Tut mir unendlich leid, muss es irgendwo verloren haben. Aber das ging wohl nicht. Konnte man die Dinger nicht orten? Er meinte, so was mal gelesen zu haben.

Er faltete die erst halb gelesene Zeitung zusammen. Stand eh nur belangloses Zeug drin. Leicht schnaufend erhob er sich. Das Tablett mit der leeren Tasse und dem kleinen Teller in der Rechten ging er gemächlich auf die Theke zu. Mit der Linken griff er zum Zahlen nach seinem Portemonnaie in der Sakkotasche. Den jungen Mann in Turnschuhen und Hoodie, der wie von Else angekündigt stupide grinsend vollkommen auf sein Smartphone fixiert war, als er den Laden betrat, bemerkte Müller zunächst gar nicht.

Was dann geschah, lief so schnell ab, dass der Hauptkommissar kaum in der Lage gewesen wäre, eine vernünftige Zeugenaussage zu machen, wenn man ihn dazu aufgefordert hätte. Doch zum Glück war ja nichts passiert, wenn man von ein paar Spritzern des restlichen Kaffees auf seinem Sakko und einigen Brötchenkrümeln auf dem Fußboden absah. Irgendwie stieß er wohl unglücklich mit dem Jungspund zusammen, wobei ihm das Tablett mitsamt Tasse und Teller sowie sein Portemonnaie und das Smartphone, das in der gleichen Tasche steckte, entglitten und zu Boden fielen. Offenbar hatte auch der junge Mann sein Telefon fallen lassen, denn als Müller sich bückte, um alles wieder aufzusammeln, stießen die beiden mit den Köpfen zusammen.

„Ah! Scheiße, Mann!“, stöhnte der junge und sah sich hektisch nach seinem Smartphone um. „Das ist nagelneu, Alter! Gerade erst aktiviert. Wehe, es hat einen Kratzer!“

Ehe Müller sich genügend gesammelt hatte, um sich diesen Ton zu verbieten und mit der Autorität seiner erklecklichen Dienstjahre vorsichtshalber die Personalien festzustellen, griff sich der Hoodieträger sein Handy, prüfte hastig das Display auf etwaige Risse und verließ vor sich hin schimpfend das Café.

„Na, verstehen Sie nun, was ich meine, Herr Hauptkommissar?“, fragte Else mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie zwängte sich um die Theke herum und half Müller beim Aufstehen. „Nicht mal etwas gekauft hat er. Interessiert sich nur für seinen kleinen Kasten und hat sonst keine Augen im Kopf.“

Müller klopfte sich Hose und Jacke ab. Um das Tablett und das Geschirr kümmerte sich Else, er suchte aus seinem Portemonnaie ein paar Münzen und legte sie auf die Theke, bevor er es zusammen mit seinem Smartphone zurück in die Sakkotasche steckte. Er wollte verflucht sein, wenn er diesen Kasten auch nur ein einziges Mal gebrauchen würde.


Der Typ am anderen Ende musste verdammt hartnäckig sein. Mindestens eine Minute hatte Hauptkommissar Müller es klingeln lassen, bevor er einen deftigen Fluch ausstieß und sein niegelnagelneues Smartphone aus der Tasche fischte.

„Müller!“, raunzte er absichtlich unfreundlich, nachdem er endlich herausgefunden hatte, wo er drücken musste, um die Verbindung herzustellen.

„Spreche ich mit Kommissar Müller?“

„Hauptkommissar Müller!“

Was für eine Pfeife hatten die denn da auf dem Kommissariat beauftragt, ihn anzurufen? Machten das neuerdings die Praktikanten?

„Na, meinetwegen.“ Müller atmete tief durch, sonst wäre ihm bei dieser Frechheit der Kragen geplatzt. „Hören Sie: Sie werden in der Kronenstraße 17 gebraucht. Dritter Stock. Dort hat man einen Mord gemeldet.“

Müller schüttelte umwirsch den Kopf. Was war denn das für ein Anruf? Dachte der Mensch am anderen Ende, er würde sich eine Pizza bestellen?

„Das heißt ‚Tötungsdelikt‘, ja? Und wieso verständigen Sie ausgerechnet mich darüber?“

Müller meinte das genervte Augenrollen förmlich hören zu können.

„Nun stellen Sie sich mal nicht so an, sonst kostet das extra, klar? Alle anderen sind längst vor Ort, nur Sie fehlen noch. Also fahren Sie nun hin oder nicht?“

Einen Moment war Müller versucht, dem Menschen zu sagen, was er ihn mal kreuzweise könne, doch im letzten Augenblick besann er sich eines Besseren. Wenn es sich in seiner Abteilung herumsprach, dass er sich vor einem Einsatz gedrückt hat, würde sein Chef womöglich demnächst ein wachsameres Auge darauf haben, wo er sich während seiner Dienstzeit herumtrieb.

„Bin schon unterwegs“, knurrte er.

Das Display seines Smartphones knirschte leicht, so fest drückte er das Auflegen-Feld.


Die Kronenstraße 17 erwies sich als vierstöckiges Wohnhaus mit verklinkerter Fassade. Untere Mittelschicht. Wahrscheinlich gab es hier mehrere Familien mit Kindern, für deren Betreuung ein Elternteil zu Hause blieb. Massig Zeugen, die etwas gehört oder gesehen haben könnten.

Müller musterte die Klingelschilder. Etwa die Hälfte der Namen war deutsch, die andere hatte ihren Ursprung in aller Herren Länder. Gewohnte Integration.

Zu seiner großen Verwunderung konnte Müller weder auf der Straße einen Einsatzwagen ausfindig machen, noch traf er im Treppenhaus einen uniformierten Kollegen an. Selbst die Tür zu der Wohnung im dritten Stock war auf ganz gewöhnliche Weise verschlossen, als wäre der Mann zur Arbeit und die Frau zum Einkaufen. Oder anders herum. Mit gerunzelter Stirn drückte der Hauptkommissar auf den Klingelknopf.

Eine Frau in Zivil öffnete. Ihr Haar war kurzgeschoren und in einem grellen Pink gefärbt. In den Ohrmuscheln, der Nase, der Unterlippe und beiden Augenbrauen wimmelte es von Piercings. Sie trug eine abgewetzte Lederjacke über einem labberigen Top, darunter keinen BH. Ihre Beine steckten in einer dieser hautengen Sporthosen, die niemals jemand wirklich zum Trainieren anzieht. An den Füßen hatte sie offensichtlich eigenhändig mit Filzstift verzierte Turnschuhe. Insgesamt genau der Typ, den Müller in seiner Zeit beim Rauschgiftdezernat vorzugsweise auf Einhaltung des Betäubungsmittelgesetzes überprüft hatte.

„Da sind Sie ja endlich“, begrüßte ihn die vermeindliche Fixerin. „Wurde aber auch Zeit. Alles wartet schon auf Sie.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sie auf den Turnschuhhacken kehrt und ging den Flur entlang in den Raum hinein.

„Kommen Sie ins Wohnzimmer! Da briefe ich Sie.“

Zögernd folgte Müller ihr den Korridor entlang. Briefen? Sollte das etwa eine Kollegin sein? Er dachte, er würde alle Mitarbeiter in der Mordkommission kennen, aber so eine Gestalt war ihm dort nie begegnet. Ob sie vielleicht aus einer anderen Abteilung war? Vielleicht jemand, der in der Drogenszene ermittelte und dafür sein Äußeres entsprechend angepasst hatte? Das würde zumindest ihren Aufzug erklären.

Im Wohnzimmer erwarteten ihn zwei weitere Personen. Eine Frau, Mitte dreißig, von schwindender Attraktivität, was sie durch ein Übermaß an Makeup zu kaschieren versuchte. Sie schluchzte in ein Papiertaschentuch. Neben ihr auf minimaler Tuchfühlung ein etwas älterer Mann in zerknittertem Anzug, der fürsorglich seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte.

„Das sind die Frau des Opfers und ein … Bekannter“, stellte der pinkfarbene Igelkopf die beiden vor, wobei sie vor dem Wort ‚Bekannter‘ eine vielsagende Pause machte.

„Und Sie sind?“, fragte Müller, ohne zunächst auf die Zivilisten auf dem Sofa einzugehen. Die beiden schienen recht gut in der Lage zu sein, sich miteinander zu beschäftigen.

„Kommissarsanwärterin Schulze-Weißenhaupt“, antwortete die Gepiercte. „Ich bin in diesem Fall Ihre Assistentin.“

„Assistentin, soso!“

Müller beschloss, auf diese Zuteilung vorerst nicht einzugehen. Ihn beschäftigte eine andere Sache. Er sah sich im Wohnzimmer um.

„Wo ist die Leiche?“

„Weg.“

„Wie ‚weg‘?“

„Na, weg! Nicht mehr hier.“ Die angebliche Assistentin stemmte die Hände auf die Hüften. „Wir warten hier immerhin schon mindestens eine Stunde auf Sie. Solange hatte unsere Leiche keine Zeit, also ist sie weg.“

Müller sah sie mit großen Augen an. Wollte die Frau ihn verarschen?

„Und wo ist die Leiche so eilig hin?“

„Na, dahin, wo alle Leichen hingehen.“ Die Kommissarsanwärterin lachte spöttisch. Müller bemerkte aus dem Augenwinkel, dass auch die frisch gebackene Witwe und ihr allzu offensichtlicher Liebhaber Mühe hatten, ein Grinsen zu unterdrücken. „Aber keine Angst! Wir haben ein paar schöne Fotos von dem Toten für Sie.“

Schulze-Weißenhaupt nahm einen braunen A4-Umschlag vom niedrigen Couchtisch, öffnete ihn und zog einen Schwung großformatige Bilder heraus, den sie Müller reichte. Er blätterte ihn rasch durch. Auf allen war aus verschiedenen Perspektiven ein Mann zu sehen, der neben dem Sofa, auf dem nun das Pärchen turtelte, langgestreckt auf dem Teppich lag. Mitten auf der Brust breitete sich ein roter Fleck über das ansonsten reinweiße Hemd aus und in seinem Mundwinkel war ein dünnes Rinnsal Blut zu erkennen.

„Schön, nicht?“, fragte Schulze-Weißenhaupt sichtlich stolz.

„Haben Sie ihn so gefunden?“

Die Witwe nickte eifrig.

„Ganz sicher?“

Sie schluchzte laut.

„Wir … wir hatten heute an einem Kurs zu französischer Lyrik der Frührenaissance teilgenommen“, mischte sich der Liebhaber ein. „Ich habe Julia … Frau Walter dann noch nach Hause gebracht. Normalerweise ist ihr Mann um diese Zeit nicht da. Doch heute … Als wir ins Wohnzimmer kamen, lag er dort auf dem Boden. Tot. Jemand muss ihn erschossen haben.“

„Das kann schon sein. Aber nicht hier im Wohnzimmer.“

Alle drei Augenpaare wandten sich Müller zu. Die Witwe vergaß vor Erstaunen für einen Moment sogar ihr Schluchzen.

„Wie kommen Sie denn darauf?“, wollte Schulze-Weißenhaupt wissen.

„Sie sind doch Kommissarsanwärterin. Haben Sie noch nie einen Tatort gesehen, wo jemand erschossen wurde?“ Müller rieb sich die Nase. Ihm gefiel die Situation. Eine Weile hatte ihn seine Assistentin wie einen Trottel vorgeführt, aber jetzt zeigte sich, wer hier die jahrelange Erfahrung hatte. „Wenn jemand erschossen wird, gibt es ringsum Blut. Massenhaft Blut. Aber hier …“, er wies auf den Boden und die Wände, „… ist nicht der kleinste Spritzer zu sehen. Was hat denn die Spusi dazu gesagt?“

„Bitte wer?“

Der Liebhaber hatte seinen tröstenden Arm zurückgezogen und war an die vordere Kante des Sofas gerückt. Müller bemerkte, dass er fragende Blicke mit der Anwärterin austauschte.

„Die Spurensicherung. Erzählen Sie mir nicht, das die Leiche auch schon weg war, bevor die hier alles abgesucht haben?“

„Wir … Also, nein … Das ist …“

Doch wie das war, fiel der Schulze-Weißenhaupt offenbar nicht mehr ein. Dafür wurde ihr Blickkontakt mit dem Romeo immer intensiver und hektischer.

„An sowas haben wir gar nicht gedacht“, raunte dieser.

„Aber Sie bestehen weiter darauf, hier eine Leiche gefunden zu haben?“, fragte Müller. In ihm wuchs ein bestimmter Verdacht heran.

„Ja … Ja, natürlich“, beharrte der Liebhaber.

„Ich habe sie auch gesehen!“, bekräftigte Schulze-Weißenhaupt in der Hoffnung, das Geschehen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

„Dann sind Sie alle drei hiermit vorübergehend festgenommen“, verkündetet Müller. „Wegen des Verdachts auf Vertuschung eines Kapitalverbrechens.“

Er zog sein Smartphone aus der Tasche. Plötzlich war er froh, eines zu besitzen und damit jederzeit nach Unterstützung telefonieren zu können.

Er schaltete es ein und starrte einige Sekunden suchend auf die Anzeige. Schließlich reichte er es der Frau, die sich als seine Assistentin ausgegeben hatte.

„Könnten Sie mal bitte die Nummer für die Polizei wählen?“


Polizeihauptkommissar Kurt Müller sollte niemals erfahren, ob die vier Schutzpolizisten, die wenige Minuten später ankamen und die drei Festgenommenen in Gewahrsam nahmen, Bescheid wussten und ihn einfach auflaufen ließen. Vielleicht hatten sie aber auch keine Ahnung. Immerhin riefen die drei zunehmend hektisch durcheinander und veranstalteten solch ein Tohuwabohu, dass auf dem Weg zu den Einsatzwagen etliche Fenster aufgingen und die neugierigen Anwohner unter Johlen und Lachen ihren Teil zum Lärmpegel beitrugen. Und so veranlasste Hauptkommissar Müller, das die Verdächtigen erkennungsdienstlich erfasst und ihre Merkmale mit den Fahndungslisten abgeglichen wurden, als sein Kollege Oberkommissar Friedrich den Kopf zur Tür reinsteckte.

„Also hier steckst du. Hat der alte Schmidt doch richtig gehört. Ich versuche schon eine ganze Weile, dich zu erreichen.“

„Hatte zu tun. Warum hast du es nicht auf meinem Smartphone versucht? Ich denke, dafür ist das Wunderding da.“

„Hab ich ja. Aber du bist nicht rangegangen.“

„Hab nichts gehört. Muss wohl an dem Krach meiner Kundschaft gelegen haben.“

Er nickte mit dem Kopf hinüber zu der Bank im Hintergrund, auf der nun resigniert die angebliche Assistentin, die vermeintliche Witwe und ihr nun gar nicht mehr fürsorglicher Liebhaber still vor sich hin brüteten. Oberkommissar Friedrichs Blick folgte dem Wink.

„Was willst du denn mit denen?“, fragte er amüsiert. „Kriegst du während der Dienstzeit nicht genug Mord und Totschlag, dass du nun auch noch in deiner Freizeit den Kommissar spielst?“

„Was meinst du? Das sind die Typen von dem Tatort, zu dem ihr mich hinbestellt habt. Hatten die Leiche schon beiseite geschafft, als ich angekommen bin, und sich dann heftig in Widersprüche verfangen.“

„Die da?“ Friedrichs belustigtes Grinsen ging in eine besorgte Miene über. „Mensch, Kurt! Du hast die doch nicht etwa festgenommen?“

„Na, und ob ich das habe! Mit denen stimmt etwas ganz und gar nicht, und ich werde herausfinden, was das ist.“

„Verdammt, Kurt!“ Friedrich zog seinen Kollegen am Ärmel ein Stück beiseite. Er bewegte seinen Mund ganz nah an Hauptkommissar Müllers Ohr. „Ich kann dir sagen, was da nicht stimmt: Das sind keine echten Polizisten und Zeugen.“

„Na, soviel weiß ich auch schon.“

„Du verstehst nicht! Das sind Schauspieler! Die machen das beruflich!“

„Ey, für wie blöd hältst du mich? Schauspieler? Ich habe die doch nicht von der Theaterbühne gezerrt!“

„Nee, sondern aus einer Wohnung in der Kronenstraße, habe ich recht?“

„Natürlich. Schließlich habt ihr mich da hingeschickt.“

Oberkommissar Friedrich fuhr sich mit einer Hand durch das spärliche Haar.

„Du solltest ganz woanders hin. Die Wohnung in der Kronenstraße ist so eine Art Minitheater. Für private Aufführungen, bei denen das zahlende Publikum mitmacht und den Ermittler mimt. Hast du noch nie etwas von Krimispielen gehört? Bei denen Manager und Banker und Bäcker angebliche Mordfälle lösen?“

Müller sah seinen Kollegen zunehmend verwirrt an.

„Und du meinst, die da …?“

„Ganz sicher!“ Oberkommissar Friedrich nickte bestimmt. „Das Mädel mit der pinkfarbenen Igelfrisur hat sich als deine Assistentin ausgegeben, stimmt’s?“ Als Müller schwieg, fuhr er fort. „Bei der Truppe hat mein Neffe mal eine Aufführung mitgemacht. Sein Firmenchef meinte, das sei ein tolles Teambuilding-Event. Naja, er fand es nicht so pralle. Ist wohl nicht die Krönung der Branche. Besonders über den Rosakopf hat er sich hinterher beschwert. Die wird wohl gerne zickig zu den Kunden.“

Je länger er redete, desto mehr wich die Farbe aus Müllers Gesicht. Besonders, als der Hauptwachtmeister, der am Computer saß und offenbar gerade damit fertig war, die Beschreibungen und Fingerabdrücke einzugeben, das Ende von Friedrichs eindringlichem Flüstern aufschnappte.

„Hab ich das richtig mitgekriegt?“, fragte er spöttisch. „Ihr verhaftet jetzt Schauspieler von der Bühne weg?“

„Klappe, Drömer!“, schnauzte Friedrich ihn an.

Doch es war zu spät. Hauptwachtmeister Drömer war alles andere als gewillt, die unerwartete Abwechslung in seinem eintönigen Arbeitsalltag ungenutzt vorbeiziehen zu lassen.

„Mensch, Herr Hauptkommissar, nächsten Monat ist das Filmfestival in Cannes. Fahren Sie da auch hin, um Brad Pitt und Angelina Jolie hoppzunehmen? Für die würde ich hier sogar aufräumen.“

Er kicherte vor sich hin. Hauptkommissar Müller schloss die Augen. Er machte sich keine Illusionen - die Geschichte würde sich bis zum Abend im ganzen Kommissariat herumsprechen. Für die nächsten Wochen wäre er Depp vom Dienst. So viel zum Thema Erfahrung im Job. Was nützte ihm die, wenn sich die Welt um ihn herum ständig im wahnwitzigen Tempo änderte? Vorgespielte Kriminalfälle für Möchtegern-Kommissare. Wie hätte er denn so etwas ahnen sollen?

„Kurt, ich denke, wir sollten die drei schleunigst …“

„Wie? Ja! Ja, du hast ganz recht. Wir sollten sie gehen lassen.“

„Und entschuldige dich besser bei ihnen. Vielleicht sehen sie dann von einer Anzeige oder Dienstaufsichtsbeschwerde ab.“

Hauptkommissar Müller fühlte sich so klein wie nie zuvor in seinem Leben, als er mit hängendem Kopf zur Bank mit den Schauspielern schlurfte.

„Na, endlich gecheckt, dass Sie Bockmist gebaut haben?“ Die Assistentin verschränkte die Arme vor der Brust, während er zerknirscht seinen Fehler zugab. Sie tippte nervös mit dem Fuß auf den Boden. Anscheinend ging ihr ein Gedanke im Kopf herum. Sie überlegt, ob sie Beschwerde einlegt, vermutete Müller. Doch stattdessen presste sie die Lippen fest aufeinander, als würde ihr die Idee, die sie vorbrachte, körperliche Schmerzen bereiten.

„Trotzdem! Sie haben in ein paar Minuten rausgefunden, dass alles nur Show ist, obwohl Sie davon eigentlich nichts wussten.“

„Nun, Sie haben aber auch eine Menge falsch …“

„Genau darum geht es ja.“ Sie löste ihre verschränkten Arme voneinander. „Sehen Sie, ich bin die Regisseurin der Truppe, und ich mag es gerne realistisch. Ist ein hartes Business, und wenn sich herumspricht, dass wir so einfach zu durchschauen sind, können wir gleich einpacken.“

Müller sah sie blinzelnd an. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, worauf sie hinaus wollte.

„Lange Rede, wenig Sinn: Ich würde Sie gerne als Berater engagieren!“ Sie presste wieder die Lippen aufeinander und tippte noch schneller mit dem Fuß. „Was sagen Sie?“

Müller sagte nichts. Der Fall nahm für seine Begriffe zu schnell zu viele Wendungen.

„Ich … überlege es mir“, brachte er schließlich heraus.

Die Regisseurin verkniff das Gesicht aus Ärger, sich die Blöße gegeben zu haben. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und ging zur Tür. Ihre beiden Schauspielkollegen folgten ihr.

„Na, das ist ja nochmal glimpflich ausgegangen.“ Oberkommissar Friedrich klopfte Müller auf die Schulter. „Und nun kommst du ganz groß als Berater für Krimispiele heraus. Vielleicht sollte ich auch mal grundlos Leute verhaften. Scheint sich zu lohnen.“

„Männer!“ Hauptwachtmeister Drömer setzte sich an seinem Computer ruckartig auf. „Das war nicht grundlos! Dieser Lehmann, der den Liebhaber gespielt hat … Der heißt gar nicht Lehmann, sondern Mischkowski. Und er wird gesucht wegen schweren Raubes und Diebstahls!“

Müller und Friedrich tauschten einen alarmierten Blick.

„Nichts wie hinterher!“, rief Friedrich aus und setzte an, die Truppe zu verfolgen. Aber Müller hielt ihn zurück.

„Das kann Drömer machen“, sagte er laut. „Der steht doch auf Schauspieler.“ Er schaute rüber zu dem korpulenten Hauptwachtmeister an seinem Computer. „Worauf warten Sie, Drömer? Besser, Sie legen einen Zahn zu, bevor der Kerl auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist.“

Unter den Anfeuerungsrufen der Kommissare wuchtete sich der Hauptwachtmeister fluchend von seinem Stuhl, um den Tisch herum und durch die Tür den Gang hinunter.

„Jetzt wüsste ich nur noch eines gerne“, lachte Oberkommissar Friedrich, nachdem Drömer außer Sicht war.

„Nämlich?“

„Wieso du überhaupt auf die Idee gekommen bist, in die Kronenstraße zu gehen.“

„Blöde Frage! Weil ihr mich dorthin geschickt habt, natürlich.“

„Das ist es ja eben. Wir haben dich niemals dorthin beordert. Du solltest nach Walderstadt. Amtshilfe leisten. Haben dort alle die Grippe und eine echte Leiche.“

„Du meinst, ich war beim falschen Mord?“

„Sieht ganz danach aus.“

„Und wer hat dann den richtigen Mord übernommen?“

„Ja, das ist die große Frage, oder?“