mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Das letzte Schachmatt

von Olaf Fritsche

Der Wind blies ihm den kalten Nieselregen ins Gesicht. Er klappte den Kragen seines Mantels hoch. Mit der Linken drückte er so gut es ging das Revers zu. Im März war auch das portugiesische Estoril ungemütlich. Nicht so ungemütlich, wie der Rest Europas für ihn wäre, aber zum Frösteln reichte es allemal. Alexander Alexandrowitsch Aljechin zog die Schultern hoch und schritt weiter. Sie wollten ihn nicht haben. Nirgendwo. Nicht in Russland, seinem Geburtsland, nicht in Frankreich, seiner Wahlheimat, und nicht in Deutschland, das ihn mit sich ins Verderben gerissen hatte. Ja, und nicht in dem Kasino von Estoril, wo man ihm eben die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Ohne Geld hast du hier nichts verloren, hatten sie ihm gesagt.

Nicht mehr viele Figuren auf dem Brett, dachte er.

Es war spät am Abend, etwa eine Stunde vor Mitternacht. Die Straßen waren weitgehend menschenleer. Im Portugal Salazars trieb man sich nicht länger draußen herum, als unbedingt nötig. Die Geheimpolizei PIDE konnte einen jederzeit mitnehmen und bis zu drei Monate ohne irgendeinen Grund festhalten. Auch länger, wenn sie Spaß daran fand. Für die meisten Menschen war es darum besser, sie blieben nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause.

Aljechin hörte den Widerhall seiner Schritte auf dem Pflaster. Auch er verließ nach Möglichkeit nicht sein Zimmer im Hotel do Parque, ganz in der Nähe des Kasinos. Jedoch nicht aus Angst vor der Geheimpolizei. Von ihr hatte er nichts zu befürchten. Portugal im Allgemeinen und Estoril im Besonderen waren stolz darauf, ihn zu beherbergen. Ihn, den amtierenden Weltmeister im Schach. Eine der wenigen Berühmtheiten, mit denen sich die Diktatur brüsten konnte. Nein, die PIDE stellte keine Gefahr für ihn dar. Seine Feinde kamen aus ganz anderen Richtungen, und sie waren zahlreich.

Links vor ihm an der Straßenecke stand ein Mann und rauchte. Zwei Schritte nach vorne, einen zur Seite. Ein Springer. Vielleicht ein französischer Springer? Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte er als Sanitätsoffizier in der französischen Armee gedient. Nach dem Kollaps der Grand Nation war er für den Widerstand als Übersetzer aktiv. Er hätte sein Leben gegeben, um die Nazis aus dem Land zu jagen. Aber nicht das Leben seiner Ehefrau. Um sie zu schützen, war er schließlich zum Kollaborateur geworden. Hatte Turniere im „Reich“ und den besetzten Gebieten gespielt und sich für die Propaganda einspannen lassen. Das hatten auch andere Schachgrößen getan, doch er war der Weltmeister. Er war der Verräter. Und er stand jetzt nach Kriegsende sicherlich ganz oben auf der Liste der Todesschwadrone. Der Springer dort könnte ein ehemaliger Resistance-Kämpfer auf der Suche nach ihm sein. Aljechin drückte den Hut tiefer ins Gesicht. Weitergehen! Nichts anmerken lassen! Wie am Schachbrett. Den Kontrahenten niemals die Angst spüren lassen!

Er passierte den Mann. Verwirbelte beim Vorbeigehen den Rauch seiner Zigarette. Nichts geschah. Kein Anrufen, kein Schuss aus einer Pistole, kein plötzlicher Stich mit einem verborgenen Messer. Mit jedem Schritt blieb der Mann weiter zurück. Er war kein Springer, keine Figur in dieser erbärmlichen Partie.

Die Nazis haben alles zerstört. Nicht nur ihr angeblich tausendjähriges Reich und den größten Teil Europas. Auch ihn, Aljechin, haben sie vernichtet. Er war verhasst in aller Welt, weil er sich vor ihren Karren hatte spannen lassen. An keinem Turnier durfte er mehr teilnehmen. London hatte sogar seine Einladung zurückgezogen, nachdem andere Spieler protestiert hatten, sie träten nicht an, wenn er auftauchte. Er, der Weltmeister im Schach, war eine Persona non grata auf den 64 Feldern. Doch wovon sollte er leben, wenn er nicht spielen durfte? Seit zwei Wochen war er mittellos. Er könnte ein Buch schreiben mit Kommentaren zu den Partien früherer Turniere. Sich damit seine Zigaretten verdienen. Aber wie lange könnte er sich so über Wasser halten?

Er bog um eine Ecke. Vor ihm öffnete sich eine lange, gerade Straße. Hundert Meter vor ihm kam ihm ein Mann entgegen. Groß, breit, stark. Ein Turm. Ein sowjetischer Turm? Bestimmt war es ein sowjetischer Turm!

Die Sowjets hassten ihn noch mehr als die Franzosen. Adlig und reich geboren hatte er eine wohlbehütete Kindheit im zaristischen Russland. Hatte für das Vaterland zahlreiche Siege auf dem Schachbrett erkämpft und sich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs als Sanitäter so manchen Tapferkeitsorden verdient. War als angeblicher Spion der Weißen bei den Bolschewiki in Ungnade gefallen. Durfte sich dann als Dolmetscher und Untersuchungsrichter bewähren. Und ließ das Reich des Bären hinter sich, um Franzose und Schachweltmeister zu werden. Vielleicht hätten sie über all dies hinweggesehen, doch auch die Sowjets nahmen ihm sein Paktieren mit den Nazis und seine feindlichen Äußerungen nach dem Krieg übel. In den Augen der sowjetischen Geheimpolizei war er ein Kriegsverbrecher, seinen Bruder Alexei hatten sie bereits umgebracht. Für ihn hatten sie jetzt also diesen Turm geschickt.

Aljechin wurde langsamer. Seine Beine mochten ihn kaum noch halten. Ihn nicht seinem unvermeidlichen Schicksal entgegentragen.

Dabei war seine letzte Hoffnung ausgerechnet sowjetisch. Er war der Weltmeister im Schach. Die Sowjets wollten den Titel, um der Welt zu zeigen, dass ihr System allen anderen überlegen war. Michail Botwinnik hieß ihr Champion, der nur dann ein richtiger Champion werden konnte, wenn er Aljechin in einem Kampf um die Krone schlug. Wenn Aljechin also bis zu seiner Niederlage lebte. Und vermutlich hatte er nur deshalb bis heute überlebt. Aljechin schluckte. Er zwang sich zu einer aufrechteren Haltung. Sie konnten ihn nicht töten. Noch nicht. Nicht jetzt, wo die Verhandlungen mit dem sowjetischen Schachverband so weit gediehen waren. Der Moskauer Schachclub brachte das Preisgeld auf. Der britische Schachverband überlegte, den Wettkampf in London, auf neutralem Boden, auszurichten. In diesen Tagen mussten die Entscheidungen fallen. Sein letzte Chance, der Isolation zu entkommen. Botwinniks letzte Chance, sich einen sauberen Titel zu holen. Der Turm war sicher kein sowjetischer Turm!

Enttarnt und ungefährlich blieb der Turm stehen, drehte sich zur Seite und verschwand in einem Hauseingang. Als Aljechin an der Stelle vorbeimarschierte, blieb die Tür geschlossen. Die Straße vor ihm war menschenleer.

Frei bis zur Grundlinie für den kleinen Bauern, dachte Aljechin.

Nun sah er das große Portal des Hotels. Er schritt durch den gewaltigen Bogen und durchquerte die hohe Eingangshalle. Nicht nur äußerlich spürte er ein gewisses Maß an Wärme. Es war nicht mehr als ein Hotel in einem fremden Land. Doch es war alles, was ihm momentan an Heimat geblieben war.

„Ich möchte gerne ein Abendessen auf mein Zimmer bestellen.“

Er lächelte tatsächlich ein wenig, als der Portier ihm die Speisekarte reichte.


Aljechins bescheidener Winkel Geborgenheit hatte die Nummer 43. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn über einen der beiden Sessel. Dann nahm er den Hut ab und platzierte ihn auf dem Mantel.

Die einzige Krone, die ich momentan trage, dachte er bei dem Anblick. Schon etwas verschlissen. Kein Wunder, immerhin war sein letzter Kampf um den Weltmeistertitel neun Jahre her. Damals, als er sich den Titel vom Niederländer Max Euwe zurückgeholt hatte. In Gedanken wanderte er zurück an das Brett, rief sich die erste Partie in Erinnerung. Er konnte sich an jeden einzelnen Zug erinnern, wusste noch ganz genau, warum er den Läufer gezogen, wie er auf Drohungen reagiert, welche Finten er eingebaut hatte. Ein Schachspieler auf seinem Niveau mochte einsam sein, langweilig wurde ihm nie. Im Kopf trug er immer und überall tausende Partien mit sich. Voller Schönheit, Fehler und Rätsel. Material für jahrelanges Grübeln.

Es klopfte. Er hatte sich Suppe und Steak bestellt. Wie fast jeden Abend. Obwohl er im Grunde gerne unter Menschen war, aß er meistens alleine auf seinem Zimmer. Jetzt im März waren sowieso nicht viele Gäste da. Außer zu einem Violinisten, der ein paar Türen weiter logierte, hatte er zu niemandem Kontakt. Und auch mit ihm wechselte er nur sporadisch ein paar Worte, wenn sie sich zufällig im Gang begegneten.

„Herein! Die Tür ist offen.“

Der Kellner schob sich mit dem Rücken voran in das Zimmer. Das Geschirr auf dem Servierwagen klirrte beim Überqueren der Schwelle leise.

„Guten Abend, Herr Doktor! Ihr Nachtmahl. Wo darf ich auftragen?“

Zum zweiten Mal an diesem trüben Tag lächelte Aljechin. Die Frage amüsierte ihn, zumal es im Raum nur einen einzigen geeigneten Tisch gab. Er nahm das Buch von der Platte, in dem er vor seinem vergeblichen Ausflug zum Kasino gelesen hatte. Der Kellner interpretierte die Geste richtig und breitete ein weißes Tischtuch aus. Ein neues Gesicht, stellte Aljechin fest und fragte sich, ob der Zimmerkellner, der ihm sonst das Essen brachte, wohl erkrankt war.

Aljechin nahm im Sessel am Tisch Platz und beobachtete, wie sich dieser mit abgedeckten Tellern, Terrinen, Gläsern und Besteck füllte.

„Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“

Der Neue sah ihn höflich fragend an. Er hatte einen leicht dunkleren Teint als die meisten Einheimischen in Estoril. Vielleicht stammte er weiter aus dem Süden. Oder ein Südamerikaner, der sich in der europäischen Gastronomie bessere Chancen erhoffte.

„Danke, das wäre vorerst alles. Wenn Sie in einer Stunde abtragen würden.“

Der Kellner verbeugte sich brav. Mit zwei Schritten war er an der Tür. Statt hinauszugehen, schloss er sie aber von innen und drehte den Schlüssel herum.

„Ich denke, ich bleibe besser gleich hier.“

Seine Stimme hatte ihre untertänige Sanftheit verloren. Sie klang nun hart, bedrohlich. Wie die Pistole, die sichtbar wurde, als der Mann die Serviette über seiner rechten Hand zurückschlug. Sie war direkt auf Aljechins Brust gerichtet. Der Schachmeister schnappte überrascht nach Luft.

„Was … Was soll das bedeuten?“

„Das bedeutet, dass der Tag der Abrechnung gekommen ist.“

Aljechin schloss die Augen. Also doch! Er hatte es ja die ganze Zeit über geahnt. Sie hatten ihn aufgespürt. Sie waren unerbittlich.

„Franzosen oder Bolschewiki?“

„Was?“

„Franzosen oder Bolschewiki? Wer hat Sie geschickt? In wessen Auftrag sind Sie hier?“

Der Kellner lachte kurz auf.

„Ach so. Sie glauben, Ihre kleinliche Anbiederei bei den Nazis hätte Sie in diese Lage gebracht. Sie nehmen sich mal wieder viel zu wichtig, Herr Doktor!“

Aljechin starrte ihn verblüfft an. Für einen Moment vergaß er die Waffe, die auf ihn zielte.

„Wenn Sie nicht … Wieso sonst? Was wollen Sie dann von mir?“

„Gerechtigkeit! Es geht um Gerechtigkeit, Doktorchen!“

„Gerech… Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht folgen.“

Der Kellner trat einen Schritt in das Zimmer hinein und beugte sich leicht vor.

„Gerechtigkeit! Und ihre Feigheit!“

„Hören Sie! Die Nazis haben meine Frau und mich …“

„Was interessieren mich die Nazis?“, brüllte der Kellner, sodass es die Gäste in den angrenzenden Zimmern gehört hätten, wäre das Hotel nicht fast leer. „Zum Teufel mit den Nazis! Hier geht es um viel mehr! Um Höheres!“

Aljechins Stirn legte sich in Falten. Er verstand gar nichts mehr. Offensichtlich hatte er es mit einem Verrückten zu tun.

„Höheres?“

„Ja, Höheres!“ Einige Tropfen Speichel lösten sich von seinem Mund und landeten auf dem noch leeren Speiseteller. „Worum dreht sich alles in Ihrem Leben? Ihr ganzes Dasein? Denken Sie scharf nach!“

Sein Blick war stechend. Aljechin kannte diese Art von Blick von manchen seiner Gegenspieler am Schachbrett. Von jenen, die kurz vor dem Wahnsinn standen oder schon einen Schritt weiter waren.

„Es geht um Schach?“

Dieser Kerl musste wirklich irrsinnig sein. Jedem Menschen mit gesundem Geist, auch jedem Schachspieler, war klar, dass Schach eine Passion sein konnte. Einen Tag und Nacht verfolgen, nahezu von einem Besitz ergreifen konnte. Doch im Vergleich zu solch ungeheuerlichen Schrecken wie einem Weltkrieg – oder gar zwei Weltkriegen, einer Revolution sowie einem rast- und ruhelosen Exil, wie Aljechin sie durchlebt hatte, wie er sie noch durchlebte – war das Spiel der Könige letztlich nicht mehr als dies: ein Spiel. Ein Messen der geistigen Kräfte. Ein sportlicher Wettkampf.

Der Kellner nickte.

„Ja, Schach. Und die Weltmeisterschaft. Die Sie gestohlen und nie zurückgegeben haben.“

„Nun machen Sie mal halblang!“ Aljechin dachte nicht mehr an die Pistole. Er richtete sich empört in seinem Sessel auf und schlug die Hände auf die Lehnen. „Ich habe mir den Titel ehrlich erkämpft! Gegen Capablanca, Bogoljubow, Euwe.“

„Sie haben die Krone Capablanca gestohlen!“ Der Kellner war um den Tisch geeilt und stützte sich ebenfalls auf die Sessellehnen. Sein Gesicht befand sich nur Zentimeter vor Aljechins. „Gestohlen und sich feige damit verkrochen.“

„Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden.“ Aljechin zuckte nicht zurück. Der in ihm aufflammende Zorn hatte ihn jenseits der Angst getragen. „Capablanca hätte jederzeit eine Revanche haben können. Zu den gleichen Konditionen, die er mir aufgezwungen hatte, als ich ihn herausgefordert habe.“

Der Kellner stieß sich vom Sessel ab, ging ein Stück zurück und zielte mit der Waffe erneut auf Aljechin.

„Ach, ja?“ Er schnaubte verächtlich. „Und wie hätte ein Schachspieler wie Capablanca 10.000 Dollar Preisgeld aufbringen sollen?“

„Das war sein Problem! Er hatte sich auf genau die gleiche Art jahrelang sämtliche Herausforderer vom Hals gehalten. Weil er Angst hatte zu verlieren.“

„Capablanca hatte keine Angst!“ Erneut schrie der Kellner. „Niemals! Er war ein Gentleman und Sportsmann.“

„Ihr Idol war ein geldgieriger Snob! Von den 10.000 Dollar Preisgeld bekam er vorab 2.000 Dollar, einfach dafür, dass er überhaupt spielte. Vom Rest bekam ich für meinen Sieg 4.800 und er 3.200. Er hat verloren und dennoch mehr eingestrichen als ich als Sieger!“ Aljechin grinste höhnisch. „Trotzdem ist er nicht mal zur Abschlusszeremonie erschienen, Ihr vorbildlicher Sportsmann.“

Das Gesicht des Kellners wurde totenbleich. Langsam hob er den Arm mit der Pistole. Aljechin hörte, wie der Hahn beim Spannen klickte. Gleich würde der Kerl abdrücken. Gleich war es vorbei. Doch Kellner schoss nicht.

„Aufstehen!“, befahl er stattdessen.

„Was soll ich?“

„Sie haben schon verstanden. Aufstehen!“

Zögerlich erhob sich Aljechin. Der Kellner winkte mit der Pistole.

„Gehen Sie da rüber! Zum anderen Sessel!“

Aljechin gehorchte. Unterwegs verlor er keine Sekunde die Waffe aus dem Auge.

„Ziehen Sie Ihren Mantel an!“

„Ich weiß wirklich nicht, was das …“

„Mantel anziehen!“

Aljechin fuhr mit den Armen in die Ärmel seines dicken Wollmantels und schlüpfte ganz hinein. Die Aktion ergab für ihn keinen Sinn. Im Zimmer war es warm. Ob dieser Verrückte ihn aus dem Hotel entführen wollte, bevor er ihn erschoss?

„Wieder zurück zum anderen Sessel!“

Aljechin machte einen Schritt rückwärts.

„Dabei umdrehen! Nicht zu mir sehen!“

Während Aljechin auf dem Weg zu seinem Essplatz war, vernahm er ein schabendes Geräusch. Was hatte der Kerl nur vor?

„Hinsetzen!“

Aljechin tat, wie ihm geheißen war. In seinen Händen hielt der Kellner jetzt eine Rolle Seil. Vermutlich war sie zuvor im unteren Teil des Servierwagens verborgen gewesen.

„Ich warne Sie! Ich bin jünger und stärker als Sie. Beim ersten Versuch abzuhauen, knalle ich Sie nieder.“

Der Kellner steckte sich die Pistole hinten in den Hosenbund. Dann trat er mit dem Seil hinter Aljechin und fesselte ihn.

„Wozu der Mantel, wenn Sie mich nur am Weglaufen hindern wollen?“ „Das hat damit nichts zu tun.“ Der Kellner ruckte prüfend an den Knoten. „Sie laufen schon nicht weg. Der Mantel verhindert nur, dass man später an ihrer Leiche Fesselspuren findet.“

Bei den Worten trat Aljechin kalter Schweiß auf die Stirn. Ein kluger Zug. Der Kerl mochte irre sein, aber er hatte alles sorgfältig durchdacht und vorausgeplant. Genau so hatte er selbst 1927 Capablanca besiegt. Der Kubaner war zu selbstsicher gewesen und hatte sich nicht vorbereitet. Aber er, Aljechin, hatte seinen Gegner jahrelang studiert, seine Schwächen analysiert und Strategien entwickelt, um ihn zu schlagen.

„Sie haben mich beobachtet, oder?“ Seine Stimme zitterte leicht. „Das alles ist von langer Hand vorbereitet.“

„Fällt Ihnen das jetzt erst auf?“ Zufrieden ließ der Kellner von dem Seil ab, ging zum zweiten Sessel und setzte sich mit einem Bein auf dessen Lehne. „Seit Capablancas Tod vor vier Jahren bin ich Ihnen auf den Fersen. Er hätte bis zu seinem letzten Atemzug den Weltmeistertitel tragen müssen. Ihm gebührte diese Ehre.“

„Aber was hat das mit Ihnen zu tun? Warum spielen Sie hier den Racheengel?“

Aljechin nahm ein Aufblitzen in den Augen des Mannes wahr. Hatte er mit der Frage einen unerwarteten Zug getan? Die Vorbereitung durchbrochen? Auf genau die gleiche Weise hatte Capablanca geschaut, als er …

„Oh, mein Gott!“ Diese Augen! Die Wangenknochen! Die ganze Statur! Warum hatte er das nicht sofort gesehen? „Sie sind sein Sohn! Sie sind einer von Capablancas Bastarden!“

Der Kellner sprang auf, machte einen großen Satz auf Aljechin zu und konnte sich erst im letzten Moment zurückhalten, ihm mit Wucht ins Gesicht zu schlagen.

„Mein Vater war ein ehrenwerter Mann!“, rief er aus, und seine Stimme überschlug sich vor Erregung.

Sicher war er das, dachte Aljechin. Solange keine Frau ins Spiel kam. Doch wo Capablanca spielte, waren immer Frauen. Scharenweise Frauen. Keine konnte seinem Charme widerstehen. Er zog sie an wie Motten das Licht. Es wäre mehr als ein Wunder nötig gewesen, wenn das ohne Folgen geblieben wäre.

„Kommen wir zum Schluss.“ Immer noch innerlich kochend vor Wut hob der Kellner den Deckel vom Beefsteak. „Sie mögen doch einfallsreiche Endspiele, oder?“

Er griff nach Messer und Gabel und riss das große Stück Fleisch mehr ab, als dass er es schnitt. Dann nahm er den Fetzen in die linke Hand und hielt ihn hoch in die Luft, während er sich hinter Aljechin begab.

„Das wird Ihnen gefallen. Wir können es das Aljechin-Gambit nennen.“ Mit der rechten Hand drückte er Aljechin den Lauf der Pistole in den Mund. Nicht mit der Mündung nach innen. Quer, sodass er wie eine Maulsperre wirkte. „Keine Sorge, es funktioniert und hinterlässt keine Spuren. Ich habe lange mit Hunden experimentiert. Wissen Sie, es gibt viele herrenlose Köter in Estoril. Und sie alle kommen ganz zutraulich heran, wenn man mit einem saftigen Stück Fleisch vor ihrer Nase wedelt.“

Aljechin wollte etwas rufen, um Hilfe schreien, doch in dem Moment, als er einen unartikulierten Ton ausstieß, rammte ihm der Kellner den Steakbrocken in die Luftröhre. Dann zog er ihm die Pistole aus dem Mund und umklammerte seinen Kopf mit den Oberarmen.

Der Todeskampf dauerte weniger als eine Minute. Zur Sicherheit hielt der Kellner Aljechins erschlafften Körper noch eine Weile fest. Dann fühlte er nach einem Puls. Da war keiner. Zum Schluss war es wieder nach Plan verlaufen.

Mit großer Ruhe löste der Kellner das Seil und rollte es zusammen. Er drückte dem Toten das restliche Steak in die Hand, weil er gehört hatte, dass Aljechin gerne mit den Fingern aß, wenn er alleine war. Nichts sollte verraten, dass jemand bei seinem Ableben nachgeholfen hatte. Aljechin war in der Schachwelt zwar ein Geächteter, aber ein gewaltsamer Tod könnte ihn irgendwie doch zu einem Märtyrer machen, und dann wäre alles umsonst gewesen.

Zum Schluss baute er auf einem Beistelltisch ein Reiseschachspiel auf. In der Ausgangsstellung, viel mehr als das wusste er nicht vom Schach. Dann schloss er die Tür auf und rollte den Servierwagen hinaus. „Gute Nacht, Herr Doktor“, sagte er in das Zimmer hinein. „Ich wünsche angenehme Träume!“

Aljechins Leiche ruhte entspannt auf dem Sessel. Ein geschlagener König am Ende einer langen, zähen Partie.


Dem offiziellen Bericht zufolge entdeckte der Zimmerservice Aljechins Leiche am folgenden Morgen, Sonntag, den 24. März 1946, um 11 Uhr. Die Autopsie ergab keine Anzeichen von Fremdeinwirkung. Als Todesursache stellte der Arzt Ersticken an einem Stück Fleisch fest, das in die Luftröhre geraten war. Warum Aljechin einen Mantel trug, weshalb er im Todeskampf nicht einmal den Tisch umgestoßen hatte und wieso auf den Fotos von der Leiche im Fundzustand die Teller leer sind, obwohl Aljechin gleich zu Beginn seines Abendessens erstickt sein soll, wurde nie untersucht. Bis heute ist nicht zweifelsfrei geklärt, wie der 4. Schachweltmeister ums Leben gekommen ist.