mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Blutiger Schnee

von Olaf Fritsche

Wind wirbelte die Flocken herum. Dicht an dicht sanken sie aus den Wolken auf die Stadt herab. Legten sich auf Dächer und Gehwege, auf Autos und Straßen. Und auf die Köpfe im Stadion.

„Schieß doch, Mann!“, brüllte der Dicke, dem die Aufregung zusammen mit der Kälte rote Backen bescherte.

Pfosten! Er griff sich mit beiden Händen in die nassen Haare.

Gegenangriff.

„Geh ran, Alter!“

Der Dünne ließ die Hände mit dem Schal in den Farben des FC sinken. Mund und Augen weit offen verfolgte er den raschen Konter der Gegenmannschaft. Die Spieler des FC schalteten nicht schnell genug um.

Flanke, Schuss und … Tor!

„Oh, nee!“

Der Kahle stampfte wütend mit dem Fuß auf wie ein trotziges Kleinkind. Noch so ein überflüssiges Ding. Jetzt stand es schon 0:3, und es war erst die Hälfte der ersten Halbzeit rum.

„U-u-u-u-u!“ Der Dicke stimmte Affenlaute an, als der Torschütze von der Gegenmannschaft in seine Spielfeldhälfte zurück trabte. Er war dunkelhäutig. Geboren in Essen, dort aufgewachsen, zur Schule gegangen, in den Fußballverein eingetreten und seit einem Jahr Nationalspieler. Eines der Aushängeschilder für Deutschland. Aber Scheiß drauf! Er war ein Neger! Und wenn er dem FC ein Tor reinknallte, zeigten sie ihm, wo er hingehörte.

Eine Böe wirbelte über die Ränge, zerstob die Flocken. Manche fielen dadurch doch nicht in die Fußballarena, sondern suchten sich einen Platz in den Straßen ringsum.

So wie der Mann in dem zerlumpten Mantel.

Er schob im Einkaufswagen all sein Gut vor sich her. Eine trockene Schlafstelle fand sich nicht darunter. Die musste er irgendwo in der kalten Stadt suchen. Seine Schritte schlurften durch das frische Weiß. Weiß war auch sein Haupt, das eine fleckige Mütze nur notdürftig schützte. Die Schneekristalle fanden trotzdem einen Weg in sein Gesicht, nässten die rissige Haut.

Er musste von der Straße runter, raus aus dem Wind. Doch die Türen waren verschlossen. Zum Bahnhof war es zu weit. Blieb ihm nur die kleine Stichstraße unweit des Sporttempels. Sie bot kein Dach gegen den Schnee, aber Wände gegen den Wind. Er hatte schon öfter dort geschlafen. Besser als nichts.

Der Mann lenkte den Wagen mit seinen Schätzen um die Ecke. Ihn begrüßten Müllcontainer und daneben stehende Pappkartons. Pappe war gut. Auf ihr lag er trocken. Seine klammen Finger bauten ein Bett. Ein Himmelbett aus Karton, das ihn für diese Nacht vor dem Himmel schützen würde. Zufrieden rollte er seinen speckigen Schlafsack aus und schlüpfte hinein. Morgen würde die Welt eine andere sein.


Schon wieder verloren. Kein Wunder! Wie sollte der FC auch gewinnen, mit diesem Trainer, bei diesem Schiedsrichter? Der Dicke, der Dünne, der Kahle und die anderen hörten in der Ferne die Siegesgesänge des Gegners. Zu gerne würden sie es denen zeigen. Ihre Ehre verteidigen. Die Ehre des FC. Aber da standen die Bullen. In Krawallmontur, mit Helmen und Schilden und Stöcken. Damit hatten sie schon öfter Bekanntschaft gemacht. War kein Durchkommen zum Gegner, höchstens ins Krankenhaus. Dabei würden sie diese arroganten Typen mit Vorliebe aus der Stadt jagen. Die hatten hier nichts zu suchen! Das hier war FC-Land!

Der Dicke, der Dünne, der Kahle und die anderen beschränkten sich darauf, ihre Vereinshymne zu grölen und die Bullen anzupöbeln. Ab und zu flogen eine Flasche und ein paar Stöcke. Nichts von Bedeutung. Nichts, was morgen in der Zeitung stand. Da würde nur stehen, dass der FC mal wieder verloren hat. Scheiß Zeitung!

Die Menge verlor sich. Die anderen waren weg, die Bullen waren weg. Nur der Dicke, der Dünne und der Kahle waren noch da. Und der Frust. Den deckte der frische Schnee nicht so schnell zu. Den mussten sie auf andere Weise loswerden.

Der Dünne trat gegen eine Schaufensterscheibe. Sein Tritt hatte so wenig Wirkung wie der Schuss eines FC-Stürmers. Der Kahle wählte dafür ein Auto. Das hatte Wirkung. Die Alarmanlage sprang an. Es hupte und blinkte und fiepte, und die drei nahmen die Beine in die Hand für den Fall, dass jemand die Bullen rief. In die Arrestzelle zu wandern, brachte nur noch mehr Frust.

Sie liefen zwei Blöcke weit, für mehr reichte die Luft nicht. Ihr Atem ging keuchend und beruhigte sich erst, als auch der Schneefall und der Wind nachließen.

„Und jetzt?“

Der Dünne sah seinen Kumpels fragend ins Gesicht. Sollten sie doch wissen, was anzufangen war, mitten in so einer Nacht.

„Ey, guckt mal da!“ Der Kahle zeigte mit dem Kinn in die Seitengasse zwischen zwei Hauszeilen. „Da gibt es Spaß.“

Die Blicke der anderen folgten der Aufforderung. Sie hellten sich auf wie die weiße Decke, die dort über Abfallcontainern und einem Kartonlager lag. Oh, ja! Das versprach jede Menge Spaß!

Der Dicke ging voran. Er ging immer voran. Und ihm folgten stets ganz dicht der Dünne und der Kahle. Alle drei bückten sich, um in das Himmelbett aus Karton zu sehen.

„Ein Yeti!“, stellte der Dicke fest. „Ein dreckiger, lausiger Yeti!“

„Ein Schandfleck für unsere Stadt!“ Der Dünne schüttelte seinen grinsenden Kopf.

„Können wir als brave Bürger sowas dulden?“ Der Kahle rieb sich die ungepflegten Hände mit den schmutzigen Fingernägeln.

„Nein, das können wir nicht.“ Sie waren sich einig.

Drei Paar Hände fassten das Ende des Schlafsacks und zerrten mit kräftigem Schwung den Schlafenden aus seiner Kartonburg.

„Aufwachen, Alm-Öhi!“, rief der Dicke.

Der Dünne und der Kahle ergriffen den erschrockenen Mann bei den Armen.

Der Dicke öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks und wand ihn vom Körper und den Beinen des Mannes.

„Hier wird nicht gepennt!“

Sie stellten den Mann auf seine unsicheren Beine.

„Was treibst du dich hier herum?“ Der Kahle stieß ihn mit beiden Händen auf den Dünnen zu.

„Weißt du eigentlich, wie sehr du stinkst?“ Der Dünne verlängerte zum Dicken.

„Kannst du nicht antworten?“ Der Dicke gab weiter an den Kahlen.

„Bist dir wohl zu fein, um mit uns zu reden.“ Der Kahle startete die nächste Runde.

Es folgten noch zwei volle Durchgänge. Dann machte der Dicke das erste Tor.

„Wir werden dir zeigen, dass du hier nicht machen kannst, was du willst.“

Sein Stoß warf den Mann zu Boden. Die drei lachten. Was für ein Mordsspaß! „Alles voller Schnee hier. Los, friss den Schnee!“

Der Kahle packte den Mann am Kragen, drückte ihn mit dem Gesicht zu Boden. Zog ihn wieder hoch. Im Haar, in der Nase, an den Augen klebte ihm nasser Schnee.

„So, du willst das Zeug nicht fressen?“ Der Dünne zerrte von vorn am Mantel des Mannes. „Dann packst du es wenigstens ein!“

Sie fassten ihre Hände voll Schnee, warfen ihn in die klaffende Öffnung.

„Bauen wir einen Schneemann!“, schlug der Dicke vor.

Mehr und mehr füllten sie die Kleidung des Mannes mit der Kälte. Er kippte zu Boden, rollte sich zusammen. Der Dünne versetzte ihm einen Freistoß in die Rippen.

„Ein Schneemann braucht eine Möhrennase.“

Der Kahle ging die Schritte zu den Abfalltonnen. Warf Mülltüten heraus, zerriss Beutel. Er fand schließlich eine schimmlige Kartoffel.

„Die taugt nicht als Nase“, wandte der Dicke ein.

„Aber als Mund“, lachte der Kahle.

Der Dünne riss den Mann nach oben, bis er vor ihnen kniete. Der Dicke öffnete ihm den Mund, der Kahle stopfte die Kartoffel so tief hinein, wie er konnte. Der Mann krampfte sich zusammen, entglitt dem Dünnen. Am Boden spuckte er hustend die Kartoffel aus.

„Ey, dem fehlt jeder Sinn für Humor.“

Der Kahle vollführte den Strafstoß. Er traf den Rücken des Mannes.

Sie kickten eine Weile an ihm herum. Verloren bald die Lust am Treten. Da zog einer ein Messer.

„Championsleague!“

Er führte die Klinge vor dem Gesicht des Mannes hin und her. Sie reflektierte den Schein der Laterne auf der anderen Straßenseite, jenseits der Gasse, dort, wo die Welt sauber und friedlich war.

„Was trägst du überhaupt für Klamotten?“ Das Messer wanderte zum obersten Knopf des Mantels. „So kann man doch nicht herumlaufen.“

Ein Ruck, und der Knopf fiel herab. Ihm folgten die weiteren Knöpfe. Danach ging die Klinge durch den Stoff, zerlegte den Mantel in Streifen.

„Und diese Schuhe! Seht euch die Schuhe an!“

Gewaltsam verließen sie die Füße des Mannes. Das Messer zerschnitt die Socken. Die Hose. Den dicken Pullover. Das Unterhemd. Zitternd lag der Mann im Schnee, umringt von der Zierde des Fanclubs.

„Und wenn er zu den Bullen geht und uns verpfeift?“

„Scheiße! Ich hab’ Frau und Kinder, Mann!“

„Kein Sorge! Der sagt nichts mehr!“

Das Messer wanderte zur Kehle des Mannes. Die Schneide ritzte ganz leicht die Haut. Ein Blutstropfen trat hervor.

Eine kurze Weile pulste das Blut in den Schnee und färbte ihn rot.


„Nun, meine Herren – und meine Dame natürlich! Was können Sie mir zu dem Fall sagen?“

Der Untersuchungsrichter faltete die Hände und blickte erwartungsvoll in die Runde.

„Gestern Nacht um 2.38 Uhr ging in der Zentrale ein Notruf ein. Der Anrufer gab an, aus einer kleinen Seitengasse in der Nähe des Stadions Lärm und ganz kurz so etwas wie Hilferufe gehört zu haben.“ Der Kommissarsanwärter las von seinem Notizblock ab. „Die Kollegen fanden vor Ort einen unbekleideten Mann, der in einem Haufen zerschnittener, blutgetränkter Lumpen schlief, um ihn herum drei bekleidete Männerleichen mit aufgeschlitzten Kehlen und Bäuchen.“

Der Untersuchungsrichter zog die Augenbrauen hoch.

„Habe ich das richtig verstanden? Ein schlafender Nackter und drei Tote?“

Der Kommissarsanwärter nickte.

„Wir konnten uns zunächst auch keinen Reim drauf machen“, gab die Hauptkommissarin zu. „Das Bild wurde erst klarer, als wir die Identitäten festgestellt hatten.“

Sie bedeutete dem Anwärter mit einer Geste fortzufahren.

„Die drei Toten sind einschlägig vorbestrafte Hooligans. Landfriedensbruch, schwere Körperverletzung in mehreren Fällen, einer war schon wegen Raubes im Gefängnis.“ Er blätterte um. „Der Nackte ist ein ehemaliger Soldat. Eliteeinheit. Kampfeinsätze in allen Krisengebieten der letzten Jahre. Zahlreiche Auszeichnungen, einmal für Wochen in Gefangenschaft.“

„Spätestens dort wurde er schwerst traumatisiert“, mischte sich der psychiatrische Gutachter ein. „Ich habe die behandelnden Ärzte der Einrichtungen, in denen er untergebracht war, kontaktiert. Außerdem habe ich selbst versucht, mit ihm zu sprechen. Wir sind uns einig, dass der Mann in seiner eigenen Welt lebt.“

„Sie meinen, er ist unzurechnungsfähig?“ Der Untersuchungsrichter machte sich eine Notiz.

„Mehr als das“, präzisierte der Psychiater. „Er ist vollkommen losgelöst von unserer Realität. Er sieht nicht das, was wir sehen. Er hört es nicht, wenn man mit ihm redet. In seinem Kopf läuft ständig ein Film ab, den wir nicht sehen können.“ Er atmete schwer aus. „Und den wir mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht sehen wollten.“

„Wie kam es dann zu dem Blutbad?“

Die Hauptkommissarin räusperte sich zum Zeichen, dass sie die Antwort übernehmen wollte.

„Wir denken, dass der Mann auf ganz bestimmte Reize von außen mit antrainierten Verhaltensweisen reagiert. In diesem Fall vermuten wir, dass ihn die Angreifer das Messer an die Kehle gesetzt haben. Dafür spricht die leichte Wunde an seinem Hals. Das hat wohl zu einer Gefährdungssituation in seiner eigenen Welt gepasst, und er hat sich verteidigt. Mit aller Konsequenz.“

„Sie meinen, er hat nackt im Schnee drei bewaffnete Schlägertypen erledigt?“ Der Untersuchungsrichter unterbrach seine Notizen.

„Genau das“, bestätigte die Hauptkommissarin. „Und nach Aussage des Anrufers hat er dafür wohl nur wenige Sekunden gebraucht.“

„Und danach hat er sich schlafen gelegt?“

„Wie gesagt, er lebt in einer anderen Welt“, sagte der Psychiater.

Der Untersuchungsrichter atmete tief durch. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.

„Unter diesen Umständen können wir ihn natürlich weder wegen Mordes oder Totschlags anklagen noch ihn frei herumlaufen lassen. Was schlagen Sie also vor? Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung?“

Alle Augen wandten sich dem Gutachter zu, der kurz auf seiner Unterlippe kaute.

„Darauf wird es wohl hinauslaufen“, sagte er schließlich. „Obwohl ihn das vermutlich an die Gefangenschaft erinnern wird, aus der er sich selbst befreit hat. Deswegen ist er wohl auch aus den anderen Einrichtungen geflohen.“ Er legte eine Pause ein, bevor er fortfuhr. „Im Grunde können wir dem Mann nicht mehr helfen. Die Person, die wir damals in den Krieg geschickt haben, ist schon lange tot.“

„Und jetzt schicken wir sie zurück in ihre ganz persönliche Hölle, weil sich ein paar Idioten das falsche Opfer ausgesucht haben.“

Den Worten der Kommissarin folgte eine Stille, wie sie die erneuten Schneeflocken vor dem Amtsgericht verbreiteten. Ihre weiße Decke verbarg den Schmutz der Nacht.