mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Am Ende einen Mord

von Olaf Fritsche

„Würden Sie dem Gericht bitte Ihren vollen Namen und ihre Tätigkeit nennen?“

„Jennifer Sue Macallen. Ich bin die Leiterin des Seniorenheims Morgenröte.“

„Mrs Macallan, haben Sie den Angeklagten als Pfleger in besagtem Heim angestellt?“

„Ja, das habe ich.“

„Aufgrund welcher Kriterien haben Sie Ihre Wahl getroffen?“

„Nun, ich habe die Stelle wie üblich ausgeschrieben und anhand der eingegangenen Bewerbungen die geeignetsten Kandidaten zu einem Gespräch eingeladen.“

„Demzufolge erschien Ihnen der Angeklagte qualifiziert für diese Aufgabe?“

„Er hatte die besten Referenzen, ja.“

„Gab es aus Ihrer Sicht irgendwelche Anzeichen, dass der Angeklagte … nun, sagen wir einmal: ein etwas überzogenes Maß an Empathie für die Heimbewohner und ihre Leiden hegte?“

„Nein, keinerlei Anzeichen. Er erledigte seine Arbeit stets korrekt.“

„Sie hatten also keinen Grund, ihm nicht voll und ganz zu vertrauen?“

„Keinen.“

„Und deshalb haben Sie ihm die verantwortungsvolle Aufgabe übertragen, den Heimbewohnern ihre Medikamente zu verabreichen?“

„Ja, genau. Ich bin davon ausgegangen, dass er dafür der beste Mitarbeiter sei.“

„Wieso das? Warum war ausgerechnet er für diesen Job am qualifiziertesten?“

„Weil er laut seinen Bewerbungsunterlagen ein Jahr Pharmazie studiert hatte und sich sehr gut mit den Wirkungen der Medikamente und ihren Dosierungen auskannte.“

„Der Angeklagte wusste folglich genau Bescheid, welcher Heimbewohner welche Tabletten bekommen sollte und wie viele?“

„Ja, das wusste er.“

„Und er war auch informiert, welche Folgen eine Überdosierung gewisser Medikamente mit sich bringt?“

„Davon ist auszugehen, ja.“

„Noch einmal, um das ganz klar zu stellen: Sie sagen aus, dass der Angeklagte genauestens im Bilde war, dass Heimbewohner sterben konnten, wenn er ihnen eine zu große Menge ihrer Medikamente verabreichte?“

„Das ist korrekt.“

„Danke, ich habe keine weiteren Fragen an die Zeugin.“


Die gute alte Macallan. Sie war noch nie die Hellste. Bis die Polizei in ihrem Büro stand, hat sie fest geglaubt, es wären alles natürliche Todesfälle gewesen. Und den Angeklagten hat sie für ein Geschenk des Himmels gehalten. Weil er ihr die Arbeit abgenommen und im Grunde seit seiner Einstellung den ganzen Laden geschmissen hat. Vermutlich glaubt sie auch noch an den Weihnachtsmann. Muss ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein, als alle Zeitungen die Morgenröte in MorgenTöte umgetauft haben.

Von uns Bewohnern hat nie einer diesen Wichtigtuer gemocht. Hat sich sonstwas auf sein abgebrochenes Studium eingebildet und sich aufgeführt wie ein Drill-Sergeant. Ich denke da nur an seine Morgenapelle, be denen jeder, der noch ohne fremde Hilfe kriechen konnte, vor seiner Zimmertür antreten musste. Da brauchte er sich nicht zu wundern, wenn ihm mal einer von uns in einem günstigen Moment direkt vor der Tür zum Pflegerpausenraum ein Häufchen hinterlassen hat. Dem weinen wir jedenfalls keine Träne nach, wenn er hinter Schloss und Riegel wandert.

So, jetzt ist die olle Wilma dran. Mal hören, was die zu sagen hat.


„… wohne seit zehn Jahren in der Morgenröte.“

„Und sie teilten sich in dieser Zeit ein Zimmer mit der ersten Toten?“

„Mit Elise, genau. Elise.“

„Ist das in der Morgenröte üblich, dass die Zimmer doppelt belegt sind?“

„Ja, junger Mann. So ist das eben, wenn man nicht viel Geld mitbringt. Dann geht alles durch zwei.“

„Zehn Jahre gemeinsam in einem kleinen Raum … Da haben Sie die Tote sicherlich gut gekannt.“

„Das will ich wohl meinen! Hab mir ihre Geschichten mindestens ein Dutzend Mal anhören müssen. Jeden Tag.“

„Hat Ihre Zimmergenossin jemals davon gesprochen, dass sie des Lebens überdrüssig war?“

„Pausenlos! Die war durch mit allem, junger Mann. Einfach durch.“

„Was waren Ihrer Ansicht nach die Gründe für diese Lebensmüdigkeit?“

„Na, dass sie keine Primadonna mehr war.“

„Primadonna?“

„Ja, sag ich doch. Die hat doch früher am Theater gesungen. Als Primadonna. Bis sie dann zu alt geworden ist. Da hat man sie abserviert. Und als ihre Ersparnisse aufgebraucht waren, ist sie in der Morgenröte gelandet.“

„Und das erklärt den Wunsch, das Leben sei vorbei?“

„Bei Elise schon, junger Mann. Die war doch den ganzen Jubel und Trubel um sie gewöhnt. Und nun wurde sie nicht mehr nach Autogrammen gefragt, sondern wie ihr Stuhlgang war. Das hat sie fertig gemacht.“

„Hatte sie denn auch gesundheitliche Probleme?“

„Junger Mann, solange Sie die nicht haben, halten Sie sich so fern von der Morgenröte, wie überhaupt möglich. Das kann ich Ihnen sagen.“

„Könnten Sie bitte ein wenig konkreter werden?“

„Meinetwegen, wenn Sie das wirklich hören wollen … Erstmal war sie nicht mehr ganz richtig im Kopf. Hat die meiste Zeit geglaubt, sie wäre immer noch am Theater und müsste sich auf ihren großen Auftritt vorbereiten. Wenn sie dann zwischendurch mal einen klaren Moment hatte, hat sie geweint. Wissen Sie, das ging einem durch und durch. So viel Traurigkeit in einem Menschen, das zieht einen ganz schön mit runter.“

„Die Tote hatte also schwere Depressionen. Auch körperliche Gebrechen?“

„’Türlich! Ein schwaches Herz und eine schwache Blase. Dafür hat sie ja die Tabletten gekriegt und die Windel.“

„Bleiben wir mal bei den Herzproblemen. Können Sie uns sagen, wer ihr die verschriebenen Medikamente gegen die Herzinsuffizienz verabreicht hat?“

„Ja, kann ich. Das war der Angeklagte.“

„Und hat jemand darauf geachtet, wie viele Tabletten er der Toten gegeben hat?“

„Nein, das hat nur er gemacht. Jeden Morgen hat er den Spender mit den Tabletten für den Tag aufgefüllt und auf ihren Nachttisch gelegt. Zu den Mahlzeiten hat er dann die Portion rausgenommen und darauf geachtet, dass sie die Pillen mit einem Schluck Wasser runtergespült hat.“

„Danke! Keine weiteren Fragen an die Zeugin.“


So viel zu der Aussage der ollen Wilma. Kaum zu glauben, dass die über neunzig ist. Aber im Kopf fitter als so mancher Politiker mit fünfzig.

Um die Elise kann es einem leid tun. War eine richtige Schönheit. Nicht nur die Stimme, die hat auch immer noch gut ausgesehen. Besonders, wenn man ihr im Speisesaal applaudiert und „Zugabe!“ gerufen hat, dann hatte sie so ein wunderbares Lächeln. Ach, Elise werde ich vermissen.

Sieht aber nicht gut aus für den sauberen Herrn Pfleger. Verantwortlich für die Medikamentenausgabe und hat persönlich auf die Einnahme geachtet – da steht man automatisch ganz oben auf der Liste der Verdächtigen, wenn sich rausstellt, dass da an den Toden gedreht wurde.

Ich bin gespannt, ob ihm der lustige Jimmy einen weiteren Nagel in den Sarg haut.


„Jim Elton Goodluck III., Euer Ehren!“

„Herr Goodluck, Sie …“

„Der Dritte, bitte!“

„Meinetwegen. Sie waren Zimmergenosse des zweiten Toten, den es in der Morgenröte innerhalb eines Monats gegeben hat. Ist das korrekt?“

„Na, wenn Sie mich fragen, war er eher mein Zimmergenosse.“

„Wie darf ich das verstehen?“

„Na, von dem war doch nicht mehr viel übrig. Der hat doch nur noch an seiner Sauerstoffflasche gehangen und geröchelt.“

„Sie spielen hier auf die schwere Lungenkrankheit an, an welcher der zweite Tote litt.“

„Na, gelitten hat der. Und wie! Aber nicht nur an der Lunge. Die Leber war auch hinüber. Und das Herz. Für den hätten Sie beim Pfandleiher keinen roten He… Na, er war ziemlich schwer krank.“

„Wäre er dann nicht in einem Krankenhaus besser aufgehoben gewesen?“

„Na, und ob! Aber das wäre noch teurer gekommen. Und dem seine Versicherung hat schon so dauernd Theater gemacht, hab’ ich am Rande mitbekommen. Die wollten dem die Geräte und Tabletten am liebsten wegnehmen.“

„Gehen wir genauer auf die Herztabletten ein. Wie wurden die verabreicht?“

„Na, genau, wie es die olle Wilma eben beschrieben hat. Der Angeklagte hat den Cocktail zusammengestellt und in eigener Person bei uns auf dem Zimmer abgeliefert. Danach ist er weg und zu den Mahlzeiten wiedergekommen. Er hat die Tabletten dem George – na, so hieß mein Zimmerkumpel doch –, dem hat er die Dinger in den Mund gelegt und ihm geholfen, das Zeug mit Wasser runterzuspülen. Dann ist er wieder weg, und George und ich haben gegessen. Das heißt, ich musste den George füttern. Hatte ja sonst keiner die Zeit dafür.“

„Sie haben also einen Teil der Pflege übernommen?“

„Na, klar! Man ist doch kein Unmensch! Vielleicht reiß’ ich mal einen etwas deftigen Scherz, aber ich lass doch meinen Kumpel nicht verhungern!“

„Die Gabe der Tabletten haben Sie aber nicht übernommen? Auch nicht ab und zu?“

„Nee, das nicht. Da hat der Angeklagte peinlichst drauf geachtet, dass er das selber macht.“

„Danke! Sie dürfen den Zeugenstand verlassen.“


Das hat er gut gemacht, der Jimmy. Hat sich wirklich rührend um George gekümmert. Hat nicht einmal erwähnt, dass ihm beim Füttern ständig die Hälfte wieder entgegen kam, weil George Schwierigkeiten mit dem Schlucken hatte. Und dass er ständig nach den Pflegern klingeln musste, weil George sich wieder eingenässt hatte. Die Hosen hätte Jimmy ihm bestimmt auch gewechselt, wenn er nicht im selbst im Rollstuhl sitzen würde. Da ist es schwierig, einen anderen im Bett herumzuwälzen.

So, noch einmal schnell die Haare zurechtlegen. Jetzt bin ich dran mit meiner Zeugenaussagen.


„Sie teilten sich ein Zimmer mit …“

„… mit dem dritten Toten, ganz richtig.“

„Und auch dieser nahm Herztabletten ein?“

„Jeden Tag dreimal.“

„Hat er sie ebenfalls durch den Angeklagten bekommen?“

„Natürlich. Das ist bei allen Heimbewohnern so.“

„Auch bei Ihnen?“

„Auch bei mir. Allerdings ist mein Herz in Ordnung. Bei mir ist es das Rheuma.“

„Und war ihr Mitbewohner ebenfalls schwer depressiv oder sterbenskrank?“

„Abgesehen von seinem schwachen Herzen?“

„Ja, abgesehen davon. Hatte er einen Grund, weshalb er sich gewünscht haben könnte, dass sein Leben ein baldiges Ende nähme.“

„Nein, kann man nicht sagen. Er war eher der Typ, der anderen den Tod auf den Hals wünschte.“

„Wie meinen Sie das?“

„Wie ich es gesagt habe. Er hatte eine äußerst aggressive Art. Beschimpfte alles und jeden. Wurde ausfällig. Stieß schon bei Kleinigkeiten Todesdrohungen aus.“

„Drohungen? Auch gegenüber dem Angeklagten?“

„Ihm gegenüber besonders.“

„Und gab es Grund zu der Annahme, dass hinter diesen Drohungen mehr steckte als nur heiße Luft?“

„Zählt es, wenn man vom Heimfenster aus mit dem Luftgewehr auf Katzen und Hunde schießt und den Pflegern ein totes Eichhörnchen in die Kaffeedose gesteckt hat?“

„Das hat der Tote getan?“

„Mehr als einmal.“

„Und wurde er auch den Pflegern gegenüber direkt gewalttätig?“

„Was ich erlebt habe, hat er die Pflegerinnen gerne angetatscht, und den Angeklagten hat er einmal gebissen.“

„Gebissen? Und sonst?“

„Sonst hat er gesagt, er würde ihm die Eier abschneiden und im Klo runterspülen. Danach hat er einen Monat lang zum Essen nur einen Löffel als Besteck bekommen.“

„Soweit Sie das beurteilen können, war das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und dem Toten also ziemlich angespannt.“

„So angespannt, dass ich jeden Moment damit gerechnet habe, dass die einander an die Gurgel gehen, wenn der Angeklagte die Medikamente gebracht hat.“

„Gut, das war’s. Sie dürfen gehen.“


Danke, Herr Staatsanwalt, dass Sie an dieser Stelle abgebrochen haben. Sonst wäre mir am Ende noch rausgerutscht, dass dieses Sackgesicht nicht nur die Angestellten terrorisiert hat, sondern auch mich. Hat mich gezwungen, ihm jeden Mittag meinen Nachtisch abzutreten. Und wenn ich versucht habe, mich zu weigern, ist er handgreiflich geworden. Hat mir einen Zahn rausgeschlagen. Eine Zigarette auf meinem Unterarm ausgedrückt. Und meinen Kopf ins Klo gesteckt. Diese miese Ratte!

Ja, mein Motiv war nicht so edel wie die von Wilma und Jimmy. Ich habe nicht aus Mitgefühl gehandelt, sondern aus Rache und aus Selbstschutz. Mein Zimmernachbar musste nicht um seinetwillen sterben, sondern um meinetwillen. Damit ich endlich wieder in Ruhe schlafen konnte.

Aber gemordet haben wir alle drei. Da ist keiner einen Deut besser. Ich weiß nicht einmal mehr, wer von uns auf die Idee gekommen ist, über Wochen hinweg heimlich winzige Mengen vom Rand der Herztabletten abzukratzen und zu sammeln, bis genug für eine garantiert tödliche Dosis beisammen war. Hat eine wahre Ewigkeit gedauert. Danach hatten Wilma und Jimmy es einfach. Ihre Mitbewohner haben eh kaum etwas mitbekommen. Denen brauchten sie das tödliche Pülverchen nur über das Essen zu streuen oder im Trinkwasser aufzulösen. Ich musste dagegen aufpassen, dass mich die Ratte nicht erwischte, wie ich das Zeug in den Pudding mischte, den er mir danach wie immer klaute. Wäre er mal nicht so unverschämt gewesen.

Uns kann jedenfalls niemand etwas nachweisen. Ich vermute, die Polizei hatte uns nicht einmal in Verdacht. Die hat sich ganz schnell auf den Pfleger eingeschossen. Beim Stichwort ‚Mord im Seniorenheim‘ denken doch alle gleich an Todesengel und so. Und die Zeitungen sowieso. Das gibt garantiert lebenslänglich. Die Rest seiner Tage kann der im Gefängniskrankenhaus Pillen verteilen.

Bin mal gespannt, wie der neue Pfleger sein wird. Der alte Ben, die klapprige Susan und die quirlige Hillary sind ja gar nicht dazu gekommen, ihre Zimmernachbarn zu bedienen. Da war die Polizei schon misstrauisch, bevor sie genügend Pulver zusammengekratzt hatten. Nun sitzen sie da mit ihrem Tütchen und müssen warten, bis sich die Lage beruhigt hat und es einen neuen geeigneten Sündenbock gibt. Und hat sich nicht neulich erst Edward so fürchterlich aufgeregt, weil er mit einem penetranten Exhibitionisten zusammenleben muss? Vielleicht sollte man ihm mal einen diskreten Hinweis auf eine mögliche Lösung geben.

Ja, es wird in Zukunft noch viel Fluktuation geben in der Morgenröte. Ich werde sicherlich noch öfter ins Gericht kommen und mir die Verhandlungen ansehen. Ist noch besser als Fernsehen.