mord2go – Tödliche Geschichten für unterwges und zwischendurch - von Olaf Fritsche

Alle für einen

von Olaf Fritsche

„Und sie garantieren mir, dass niemand auf die Idee kommt, es sei ein bezahlter Mord gewesen?“

„Das ist mein Service.“

„Dann finden Sie die Hälfte der vereinbarten Summe morgen in Bitcoins in der Wallet, die Sie mir angegeben haben. Den Rest gibt es nach Abschluss des Jobs.“

„Und Sie sind in einer Woche Ihr Problem los.“

Kurts Gesprächspartner legte auf. Vermutlich fragt er sich die kommenden Tage immer wieder, ob wirklich alles so laufen wird, wie es abgemacht ist, dachte Kurt. Zielperson war ein Finanzprüfer. Ledig, Mitte vierzig, ungesund gewissenhaft. Sein Auftraggeber hatte Kurt den Namen und die Wohnadresse genannt und ein brauchbares Foto geschickt, den Rest hatte Kurt innerhalb einer halben Stunde aus öffentlichen und vermeintlich gesicherten Datenbanken recherchiert. Genau wie den Hintergrund des Auftraggebers selbst, der den Beamten tot sehen wollte und bereit war, dafür eine Menge Geld auszugeben. Frederick Bull hieß er, seines Zeichens Berater einer Reihe multinationaler Konzerne und jemand, der gerne von sich behauptete, ein „Macher“ zu sein. Also ein Mann fürs Grobe, dem Gesetze nur dann etwas galten, wenn sie ihm nützten, und der sein Gewissen frühzeitig beim Klopfen an irgendwelche Vorstandstüren verloren hatte. Kurt sollte es recht sein. Von Menschen wie Bull lebte er, und er lebte ausgesprochen gut.

„Ein Hoch auf die moderne Technik“, sagte er leise vor sich hin, als er die Logdatei öffnete und nach den GPS-Koordinaten des Handys suchte, mit dem Bull ihn eben angerufen hatte. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um ein Wegwerfhandy, weshalb Bull sich wohl sicher fühlte, denn er rief auch dieses Mal wieder vom gleichen Ort an wie bei den vorigen Absprachen. Vermutlich sein Büro, dachte Kurt. Er würde morgen einen kleinen Abstecher machen und sich den Komplex einmal flüchtig anschauen. Einfach so, ohne besonderen Grund, schlicht aus Neugierde. Könnte ja sein, dass er nach diesem Job öfter beruflich mit Bull zu tun hat. Da kann es nicht schaden, wenn man weiß, wie weich der Geschäftspartner gebettet ist.

Vorrangig stand aber der Finanzprüfer auf dem Plan. Kurt ließ ein Programm nach Überwachungskameras auf dem mutmaßlichen Arbeitsweg des Mannes suchen und wies ein anderes an, die Gesichter auf den Streams mit dem Foto der Zielperson abzugleichen. Die Programme liefen auf einem gemieteten Server in einem Rechenzentrum in einem Land, zu dessen Geschäftsmodell es gehörte, in Fragen der Informationstechnologie nicht zu akribisch auf die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften zu achten, dafür aber äußersten Wert auf die Privatsphäre ausländischer Kunden zu legen. Auf diese Weise war sichergestellt, dass Bull selbst dann die Spur nicht zu ihm zurückverfolgen könnte, wenn Bull das könnte. Doch Kurt war zuversichtlich, dass Bull „der Macher“ bei Weitem nicht in hinreichendem Maße auch Bull „der technisch Versierte“ war. Er konnte folglich beruhigt wie vorgesehen das neue Restaurant an der Promenade ausprobieren und anschließend ins Konzert gehen, während seine Programme die Augen offen hielten nach dem Finanzmenschen, der Bull dem „Macher“ so viel Kummer bereitete.


Am folgenden Morgen galt Kurts erster Blick seinen kleinen virtuellen Helfern, die rund um die Uhr darüber wachten, ob sich jemand unbefugt Zugriff auf einen seiner Server oder Computer verschaffen wollte. Sie gaben wie gewöhnlich Entwarnung, sodass Kurt beruhigt die Ergebnisse der gestern angestoßenen Spionageaktion abrief. Beinahe ein Dutzend Kameras hatten die Zielperson auf dem Weg von der Arbeit nach Hause aufgezeichnet.

Da war zunächst die Kamera der Behörde, in welcher der Finanzbeamte tätig war und die ein Bild von miserabler Qualität lieferte. Immerhin konnte Kurt erkennen, dass der Mann das Gebäude um Punkt 17:04 Uhr verließ. Kurz darauf erfasste ihn eine Verkehrskamera, deren eigentliche Aufgabe darin bestand, rechtzeitig die Bildung von Staus zu registrieren, die aber auch einen guten Teil des Fußwegs bestrich. Als nächstes zeigten zwei Videos einer U-Bahnstation, wie die Zielperson zu den Gleisen ging und einen Wagen der Linie 3 betrat. Diesen verließ sie fünf Haltestellen weiter an jener Station, die ihrem Wohnhaus am nächsten lag. Das Überwachungssystem einer Bank, dass nicht ganz datenschutzkonform zusätzlich den Bereich vor dem Eingang aufzeichnete, lieferte die letzten Bilder, bevor der brave Finanzbeamte sich zum wohlverdienten Feierabend in seine vier Wände begab.

Große Güte, was für ein langweiliges Leben, dachte Kurt bei der Durchsicht der Videos. Im Grunde konnte der Mann froh sein, wenn Kurt diesem täglichen Trauerspiel ein Ende bereitete. Entspannt ging er ins Bad und machte sich unter der Dusche erste Gedanken, auf welche Weise er seinen Auftrag ausführen sollte.

Es war bereits halb zehn, als er das Hotel verließ. Ziemlich genau eine Stunde später als die Zielperson, wie er von seinen Programmen erfahren hatte. Mit dieser großzügigen zeitlichen Distanz folgte Kurt ihren Spuren und nahm ebenfalls die U-Bahn. Obwohl die Wagen nicht mehr so voll waren wie zur Stoßzeit, fühlte Kurt sich in der muffigen Luft unwohl. Besonders der Abschnitt zwischen den Stationen „Hauptbahnhof“ und „Bismarck-Platz“ gefiel ihm nicht, weil die Bahn gut vier Minuten für das Stück brauchte. Es war der ideale Streckenabschnitt für sein Vorhaben, entschied Kurt: In jede Richtung weit weg von jeglicher schneller Hilfe.


Die weiteren Vorbereitungen bestritt Kurt wieder mit ausgesprochenem Vergnügen. Er liebte technische Basteleien und konnte mit dem Lötkolben ebenso gut umgehen wie mit diversen Programmiersprachen. Beides war notwendig bei der Art von Morden, die er beging. Seine Spezialität waren Beseitigungen, bei denen die Polizei nicht vermutete, dass es um eine spezielle Person ging, weil er die Menschen gleich dutzendweise umbrachte. Kurt tarnte seine Taten als terroristische Anschläge. Wenn ein Müller oder Schulze oder Schmidt eines gewaltsamen Todes starb, fragten sich die Ermittler, wer an dessen Ableben interessiert war. Zerstörte eine Bombe aber gleich eine ganze Messehalle oder stürzte ein vollbesetzter Urlaubsflieger ab und gab es ein entsprechendes Bekennerschreiben oder -video, kam es niemandem verdächtig vor, dass eben auch Müller, Schulze oder Schmidt unter den Opfern war. Es starben gewissermaßen alle für Einen. Und es war eine beinahe narrensichere Sache, die nur voraussetzte, dass man absolut kein Gewissen kannte. Denn statt gezielt wie bei einem Einzelmord konzentriert den wenigen Indizien nachzugehen, verzettelten sich die Behörden bei der Jagd auf eine vermeintliche neue Terrororganisation.

Kurt erfand für sein aktuelles Bekennerschreiben eine radikal dschihadistische Gruppe mit Namen „Paradies der Erlöser“, den er mit einem Programm ins Arabische übersetzte. Dazu arrangierte er als Logo ein blutiges Schwert, das sich mit einer Kalaschnikow kreuzte. Religiöse Fundamentalisten hatten bei Terroranschlägen mal wieder Konjunktur. Das sollte dem Brief, in dem die Gruppe die Verantwortung für die zukünftige Attacke in Anspruch nahm, ausreichend Glaubwürdigkeit verleihen.

Als nächstes kümmerte er sich um den Zünder für den Sprengsatz. Vorbei waren die Zeiten, als sich ein Attentäter noch persönlich mit einer Bombe in die Luft jagen musste, um sicherzugehen, dass sie im richtigen Moment detonierte. Diese Aufgabe übertrug der technisch versierte Täter längst einem Minicomputer, wie sie harmlose Mitbürger nutzen, um automatisch ihre Blumen zu gießen oder nach der Post zu sehen. Kurts Wahl fiel auf eine kompakte Arduino-Variante, die mit einem Funksensor nach einem bestimmten Signal suchte und sobald sie es gefunden hatte, einen Countdown startete, an dessen Ende sie einen Sprengsatz zündete. Diesen Teil lötete und programmierte er innerhalb einer Viertelstunde. Als Ersatz für den Sprengstoff musste bei den Proben eine rote Leuchtdiode herhalten. Kurt drehte für die Feineinstellung der Sensoren mehrere Runden in seiner geräumigen Hotelsuite, bis er die richtige Empfindlichkeit gefunden hatte. Danach verpackte er alles fein säuberlich in einem Aktenkoffer mit Zahlenschloss, setzte sich in einen bequemen Sessel und studierte den Hotelprospekt mit den kulturellen Veranstaltungen der Stadt. Die Aufführung von Mahlers 7. Sinfonie hatte ihm durchaus gefallen. Für heute wollte er sehen, ob das Opernhaus mit dem großen Orchester mithalten konnte. Nicht das Gewissen macht eine Zivilisation aus, dachte er, erst ohne Kultur stürzt sie in die Barbarei.


Drei Tage später hatte Kurt die wichtigsten Bühnen und Museen der Stadt besucht, diversen Vorträgen gelauscht und einer Lesung beigewohnt. Die Arbeit hatten währenddessen seine Programme erledigt und festgestellt, dass die Zielperson einem strikten Tagesablauf folgte, wie es sich für einen ordentlichen Finanzprüfer gehörte. Der Mann verließ jeden Morgen um 8.17 Uhr sein Wohnhaus, ging zu Fuß zur U-Bahnstation und bestieg um 8.29 Uhr den dritten Wagen der Linie 3 stadtauswärts. Die weiteren Schritte hatte Kurts Software zwar ebenfalls analysiert, doch sie waren irrelevant. So weit würde die Zielperson am folgenden Tag nicht mehr kommen. Es war Zeit für die finale Phase der Operation.

In einem großen Kaufhaus erwarb Kurt einen Aluminiumkoffer zum Transport wertvoller Fotoausrüstung, im Baumarkt kaufte er rote und weiße Sprühfarbe und beim Floristen eine unpraktisch ausladende Birkenfeige oder Ficus benjamini im Topf, die er nur mit Mühe in den geliehenen Minivan verlud. In einem Waldstück außerhalb der Stadt färbte er den Alukoffer rot und versah ihn mit der Aufschrift „Rettungsdecke“. Hinein füllte er den mitgebrachten Sprengstoff mitsamt selbstgebastelter Zündvorrichtung, stellte den Ficus drauf und drapierte alte Zeitung so um Topf und Koffer, dass von der Bombe nichts zu sehen war. Er trat zwei Schritte zurück und betrachtete sein Werk. Es war gelungen. Wer nicht wusste, dass sich unter dem Topf ein explosiver Koffer verbarg, käme gar nicht erst auf den Gedanken. Zufrieden verfrachtete er die Konstruktion im Van und fuhr zurück in die Stadt.

Das Auto stellte er in einem Parkhaus an der U-Bahnlinie 3 ab, allerdings fünf Stationen vor der Haltestelle, an welcher der Finanzprüfer einstieg. Mit einer App suchte er den nächstgelegenen Postkasten und warf den Brief mit dem Bekennerschreiben ein. Er war an eine der größten Tageszeitungen adressiert und würde dort im Eingangskorb landen, kurz nachdem die Bombe explodiert war. Dieses Timing sollte als Beweis für die Authentizität des Schreibens genügen und die Ermittlungen in Richtung der erfundenen Terrorzelle „Paradies der Erlöser“ lenken. Per Taxi ließ Kurt sich zurück zum Hotel bringen und ging früh schlafen. Am nächsten Tag musste er deutlich vor seiner Zielperson aus dem Haus.


Ein Hoch auf den Erfinder der Baseballmütze! Zusammen mit einer weiten Jacke und einer Sonnenbrille bot sie mit einfachsten Mitteln eine unauffällige Tarnung für gesetzeswidrige Aktionen jeder Art. Kurt trug am folgenden Morgen die blassblaue Mütze einer Fastfood-Kette und einen schlabbrigen Parka, als er sich mit seiner überdimensionierten Pflanze in die U-Bahn zwängte. Der Wagen war noch nicht gerammelt voll, doch er fing sich einige böse Blicke der anderen Fahrgäste ein, als er sich mit dem Baum zu einem Sitzplatz durchdrängelte. Ächzend stellte er sein Sperrgut auf dem Boden ab und zerriss dabei den unteren Teil der Zeitungshülle, sodass er für die Passagiere unsichtbar die Kofferbombe mit den Füßen erreichen und unter seinen Sitz schieben konnte. Sollte sie später dort jemand entdecken, würde er sie wegen der Aufschrift für einen gewöhnlichen Ausrüstungsgegenstand der Bahn halten. Nachdem er erfolgreich die Bombe deponiert hatte, genoss Kurt die nächsten vier Stationen das allseitige Naserümpfen, dass sich noch steigerte, als er mitsamt seinem Ficus die U-Bahn verließ. Niemand stieß sich dabei an dem roten Metallkoffer mit der angeblichen Rettungsdecke, der im dritten Wagen zurückblieb. Die Bombe war bereit.

Glücklich der engen U-Bahnstation entkommen steuerte Kurt den nächstgelegenen Büroturm an und übergab der verdutzten Empfangsdame die Birkenfeige, wobei er von einer leeren Karte stockend ablas: „Von Herrn Dr. Bal … Balmer. Ich soll das hier abliefern. Bezahlt ist schon.“ Und verschwand, bevor die Rezeptionistin ihre Brille zurechtgerückt hatte.

Bis hierhin lief alles nach Plan. Die Bahn mit der Bombe drehte eine volle Runde, bis sie pünktlich um eine Minute vor halb neun an jener Station ankam, an welcher die Zielperson zustieg. Nun brauchte Kurt nur noch sicherzustellen, dass der Finanzprüfer selbst den Mechanismus in Gang setzte, mit dem die Bombe scharf gemacht wurde.

Für diese Aufgabe hatte er eine Reihe Mikrosonden präpariert, die ähnlich wie die RFID-Chips auf Lebensmittelpackungen, Eintrittskarten und Ausweisen mit einem bestimmten Code ausgestattet waren und vom Sensor in der Bombenzündung registriert wurden, sobald sie in deren Nähe kamen. Ein japanischer Elektronikkonzern hatte schon vor Jahren entsprechende Chips entwickelt, die so winzig waren, dass sie sogar in Banknoten eingearbeitet werden konnten, um das Geld endlich fälschungssicher zu machen. Im Gegensatz dazu waren Kurts Exemplare mit den Ausmaßen von Sesamkörnern relativ groß, doch dafür hatten sie eine klettenartige Oberfläche, mit der sie an beinahe jedem Material hafteten, mit dem sie in Kontakt kamen. Kurt verstreute eine Handvoll davon auf den Treppenstufen des Hauses, das seine Zielperson in einer Viertelstunde verlassen würde. Jeder, der über die Sonden marschierte, würde sich einige davon in die Schuhsohle treten, und wer dann in Wagen 3 der U-Bahnlinie 3 stieg, löste den Bombenmechanismus aus. Der Countdown würde dafür sorgen, dass die Detonation zwischen Hauptbahnhof und Bismarck-Platz erfolgte. Todsicher.

Kurt schlenderte seelenruhig die Straße entlang. Zwei Ecken weiter hatte er ein Café ausgemacht. Unterwegs kaufte er eine Zeitschrift, mit der er sich an einen Fensterplatz setzte und die er zu seinem französischen Frühstück mit Croissant und Café au lait durchblätterte. Als um 8.38 Uhr ein leichtes Beben das Café erschütterte und mehrere Sekunden später ein gedämpfter dumpfer Knall durch die Straßen wanderte, bestellte er sich ein weiteres Brötchen mit bitterer Orangenmarmelade.


„Schlagen Sie sich das mit der zweiten Zahlung aus dem Kopf, Mann! Das Ziel ist bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen. Schauen Sie denn kein Fernsehen?“

Kurt glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als er seinen Auftraggeber kontaktierte. Er zappte durch die Sender. Alle hatten ihr Programm unterbrochen und berichteten nonstop von dem Bombenattentat in der U-Bahn.

„Dieser Terrorakt war mein Werk. Sie wollten doch, das nichts auf eine gezielte Tötung hinweist. Das habe ich damit sichergestellt.“

„So? Das klingt in den Medien aber anders.“

„Das soll es ja auch. Sonst wäre die Ablenkung gescheitert.“

Kurt musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu werden. In seiner gesamten Karriere war er noch nie auf einen derartigen Dummkopf gestoßen wie diesen Bull.

„Sie können mir ja viel erzählen. Von mir kriegen Sie jedenfalls keinen weiteren Cent. Und seien Sie froh, wenn ich nicht die Anzahlung zurückverlange.“

Es klickte in der Leitung. Bull „der Macher“ hatte aufgelegt. Langsam ließ Kurt die Hand mit dem Handy sinken. Er kochte innerlich vor Wut. So etwas war ihm noch nie passiert. Und so etwas durfte nie wieder passieren. War erstmal ein Auftraggeber damit durchgekommen, fühlten sich andere womöglich auch dazu ermuntert, das Honorar zu prellen.

Kurt schluckte die Wut runter und ersetzte sie durch eiskalte Entschlossenheit. Er hatte zwar nicht ernsthaft damit gerechnet, jemals in solch eine Situation zu geraten, aber nichtsdestotrotz war er darauf vorbereitet.

Nun hieß es, schnell zu handeln, bevor sich die Gegenseite auf eine Vergeltungsmaßnahme einrichten konnte. Am Rechner überprüfte Kurt, ob Bull „der Totgeweihte“ erneut so dumm gewesen war, von seinem Büro aus mit ihm zu sprechen. Natürlich! Macht ging so gut wie immer mit Überheblichkeit einher, und Überheblichkeit war der beste Nährboden für fatale Fehler. Als nächstes rief Kurt die Standorte aller autonomen Autos auf, die zu Testzwecken in der Stadt unterwegs waren. Der Wettlauf um das erste selbstfahrende Auto war in vollem Gange, und in praktisch jeder Großstadt liefen entsprechende Feldversuche ab. Eines davon kurvte gerade im Büroviertel herum, vermutlich auf einer Promotiontour für Großverdiener, die es sich eine schöne Stange Geld kosten ließen, mit einem derartigen Spielzeug vor Ihresgleichen anzugeben. Mit wenigen Zeilen Programmcode hackte Kurt sich in den Steuerungscomputer des Wagens ein. Vorerst überließ er dem Techniker an Bord die Kontrolle, doch wenn es soweit war, würde das Auto nur noch seinen Befehlen aus der Ferne gehorchen. Kurt lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Waffe war bereit, jetzt hieß es lediglich noch zu warten, bis sich der Verurteilte freiwillig zum Schafott begab.

Während seine Überwachungsprogramme die Kameras im Bereich von Bulls Büro auf dessen Konterfei überprüften, bereitete Kurt ein weiteres Bekenntnis vor. Dieses Mal musste es schneller an die Öffentlichkeit raus, weshalb er sich für ein Video entschied. Aus diversen Filmchen im Internet schnitt er Fanatiker in martialischen Posen zusammen und tauschte ihr originales Gebrüll durch eine selbstentworfene Verlautbarung aus, in der eine synthetische Stimme vom Kampf gegen den gottlosen Kapitalismus des Westens faselte. Das Ganze wirkte ein wenig lieblos, und die Techniker der Polizei würden es schnell als Fälschung erkennen, doch das war dieses Mal beabsichtigt. Alle potenziellen zukünftigen Auftraggeber sollten erfahren, was ihnen drohte, wenn sie gegen die Abmachung verstießen.

Kurt war gerade mit dem Video fertig, als die Überwachungssoftware Alarm schlug. Bull „die neue Zielperson“ hatte zusammen mit einer Gruppe von Kollegen das Bürohochhaus verlassen und sich vermutlich auf den Weg zum Mittagessen in einem der umliegenden Nobelrestaurants gemacht. „Pech für den Wirt, dass der reservierte Tisch heute leer bleiben wird“, dachte Kurt.

Die Steuerung des autonomen Testautos reagierte sofort auf seine Befehle. Kurt drückte per Tastatur auf das Gaspedal und lenkte den Wagen wie in einem Computerspiel mit zunehmender Geschwindigkeit durch die Innenstadt. Zwei Blöcke hatte er zurückzulegen. Auf den Bildern der Innenraumkameras war zu sehen, wie der Techniker und ein Fahrgast in maßgeschneidertem Businessanzug panisch abwechselnd am Lenkrad rissen oder sich bemühten, die Türen zu öffnen. Ihre Versuche waren ebenso vergebens wie der verzweifelte Ansatz von Bull „dem Opfer“ und zweien seiner Mitarbeiter, dem heranrasenden Auto in letzter Sekunde auszuweichen.

Kurt schloss instinktiv die Augen, als der Zusammenstoß die Körper hoch in die Luft wirbelte und der Wagen danach durch die Glasfassade eines Juweliers krachte.

Bull ‚die Leiche‘ hätte besser daran getan, zu Lebzeiten seine Rechnungen zu bezahlen, dachte er grimmig, während er das Video ins Internet stellte.


Drei Jahre später probierte Ludwig Kreuzer seinen Regenschirm aus. Es war ein sogenanntes Bulgarisches Modell. Den Namen hatte es erhalten, weil der bulgarische Geheimdienst Ende der 1970er Jahre damit im Ausland unliebsame Dissidenten ermordete. Im Prinzip handelte es sich um eine Art Luftgewehr in Schirmform, das mit einer winzigen giftgetränkten Kugel geladen wurde. Der Attentäter stieß die Spitze des Schirms dem Opfer in die Wade und drückte gleichzeitig auf den Auslöser im Griff, woraufhin die Druckluft das Projektil ins Gewebe schoss. In der Originalversion hatten die Spione pflanzliches Rizin als Gift eingesetzt, doch das erschien Kreuzer nicht mehr ausreichend sicher, sodass er sich für eine künstliche Substanz entschieden hatte, die so neu war, dass sie noch keinen Namen hatte, sondern nur mit dem Kürzel B-137-12 bezeichnet wurde.

Die Herausforderung bei der Anwendung des Bulgarischen Regenschirms bestand vor allem darin, sich nicht versehentlich selbst zu vergiften, und die Zielperson auch tatsächlich mit der Schirmspitze zu treffen. Immerhin sollte der Stich wie ein Versehen wirken und nicht wie eine absichtliche Attacke. Darum übte Kreuzer an einem Sofakissen, das er auf den Boden legte und an dem er scheinbar unachtsam vorbei schlenderte. Anfangs musste der Teppichboden die meisten Stiche einstecken, doch mit der Zeit wurde Kreuzer so geschickt, dass er mit großer Genauigkeit sogar bestimmte Muster auf dem Kissen traf. Das genügte. Mit einer Atemschutzmaske und Handschuhen sowie einer Lupenbrille ausgerüstet lud er die Giftkapsel in die Kammer des Schirms. Fertig. Er war soweit.

Sein Handy klingelte.

„Schillertheater. Die Vorstellung endet um 21.25 Uhr.“

Mehr sagte die Stimme nicht. Kreuzer wusste nicht, wem sie gehörte, und der Anrufer wusste nicht, wem er die Information mitgeteilt hatte. Ihnen beiden war nur bekannt, wer die Zielperson war und warum sie sterben musste. Kurt Hauser hatte vor drei Jahren aus Verärgerung über einen Auftraggeber diesen hingerichtet – und damit eine ganze Reihe von professionellen Killern um einen wertvollen Geschäftspartner gebracht. Manche von ihnen waren wie Kreuzer sogar exklusiv für diesen Frederick Bull tätig gewesen und standen nach dem Mord an ihm für einige Zeit ohne weitere Einnahmen da. Das hatte in jenen Kreisen für einen gewissen Unmut gegenüber Kurt gesorgt, weshalb sich ein kleines, anonymes Häuflein von Einzelgängern dazu entschloss, seinerseits den Verursacher seiner Misere auszuschalten.

Dieses Vorhaben erwies sich als schwieriger, als gedacht. Schnell stellten die Verschwörer fest, dass Kurt äußerst vorsichtig agierte und ihnen allen technisch haushoch überlegen war, sodass er lange Zeit nicht aufzuspüren war. Doch er hatte eine Schwäche, wie sie schließlich durch sorgfältige Analyse seiner als Terroreinsätze getarnten Arbeiten herausfanden: Er besuchte in den Orten seines Wirkens stets alle renommierten Kultureinrichtungen. Also stellten sie ihm eine Falle. Sie beauftragten ihn über einen Strohmann mit dem Mord an einer zufälligen, aber glaubwürdigen Zielperson und überprüften in analoger Fleißarbeit alle, wirklich alle Besucher von Theateraufführungen, Konzerten und Ausstellungen in der Stadt. Es war ein gewaltiger Aufwand, aber am Ende gab es nur eine Person, die plötzlich überall auftauchte. Das musste der phantomartige Kurt sein. Fortan beschatteten sie ihn rund um die Uhr, womit der technikfixierte Kurt offenbar nicht rechnete und was ihm deshalb nicht auffiel.

Kreuzer sah auf die Uhr. Anderthalb Stunden. Genügend Zeit, sich in Schale zu werfen, wie es sich für einen Theaterbesuch ziemt und sich zum Einsatzort zu begeben.


Kurt war missgestimmt, als er das Theater verließ. Die Aufführung hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Da hatte er schon auf einer Schulbühne überzeugendere Schauspieler gesehen. Zwischenzeitlich war er sogar versucht, das Stück vorzeitig zu verlassen, doch das wäre gegen seinen Grundsatz gewesen, eine Sache zu Ende zu führen, wenn er sie erstmal begonnen hatte.

Er klappte den Mantelkragen hoch. Ein kühler Wind blies, und die Wolkendecke kündigte baldigen Regen an. Besser, er beeilte sich, ins Hotel zu gelangen, zumal er weder einen Hut noch einen Schirm dabei hatte. Aber ein Taxi zu erwischen, war nicht einfach, wenn so viele Leute gleichzeitig aus dem Theater strömten.

Jemand stieß ihn von hinten leicht an.

„Verzeihung!“, sagte der Rempler kurz, während er vorbei eilte. Dabei müsste der gar nicht so rennen, schließlich hat er sehr wohl einen Regenschirm dabei, bemerkte Kurt. Es juckte an seiner rechten Wade. Er hob das Bein und kratzte sich. Hoffentlich war das kein Stich von irgendeinem Insekt, das hier im Theater hauste. Zuzutrauen wäre es dem Laden.

Er hob die Hand, als ein Taxi heranfuhr, doch der Fahrer hielt fünf Meter vor ihm und ließ ein Pärchen einsteigen. Kurt rieb sich die Augen. Ihm war ein wenig schummrig zumute. Besser, er ging zur nächsten Bushaltestelle, statt ewig hier im Kalten zu warten. Er setzte sein linkes Bein einen Schritt vor, aber als er das rechte nachziehen wollte, gehorchte es nicht. Kurt geriet aus dem Gleichgewicht. Im Fallen drehte er sich um seine Achse. Sein Handgelenk knackte laut, als es beim Versuch, den Sturz abzufangen, brach. Kurt spürte den Schmerz nicht. Auch den kalten Boden unter sich nahm er nicht wahr. Ebensowenig die Schritte und Geräusche um ihn herum, das Rufen nach einem Arzt. Er sah lediglich einige besorgte Gesichter, die langsam verblassten und einer Dunkelheit wichen.


Der Gerichtsmediziner entdeckte bei der Obduktion des Unbekannten eine kleine Einstichstelle am rechten Unterschenkel. Da sie weder gerötet war noch ein bekanntes Toxin im Gewebe nachzuweisen war, brachte er sie nicht mit dem Tod des Mannes in Zusammenhang. Mit ungelöster Identität und ohne klare Todesursache wurde der Leichnam eingeäschert und anonym beigesetzt.